Der produktive Dritte

Der Exilkoreaner Du-Yul Song organisiert seit acht Jahren informelle Treffen zwischen nord- und südkoreanischen Intellektuellen. Ziel: die Wiedervereinigung. Ein Gespräch

von DOROTHEE WENNER

Prof. Du-Yul Song, Jahrgang 1944, lebt seit 36 Jahren im deutschen Exil und lehrt derzeit Philosophie und Soziologie an der Universität Münster. Der Habermas-Schüler gilt als Mentor der südkoreanischen Linksintellektuellen, obwohl er seit knapp vier Jahrzehnten nicht mehr in sein Heimatland reisen durfte. Das verbietet das nach wie vor sehr restriktive „National Security Law“. Danach hat sich Song durch seine Reisen nach Nordkorea strafbar gemacht. Mehrfach nahm er offizielle Einladungen nach Pjöngjang an, wo er 1991 als erster Südkoreaner einen Vortrag in der Akademie der Sozialwissenschaften sowie der Kim-Il-Sung-Universität hielt.

Auf Initiative von Professor Song finden seit 1995 alljährlich Konferenzen statt, bei denen sich Wissenschaftler aus Nord- und Südkorea zu informellen Gesprächen treffen. Bislang waren diese Treffen nur auf neutralem Boden – in Peking – möglich, Ende März dieses Jahres konnte die Konferenz erstmals auf der koreanischen Halbinsel – in Pjöngjang – abgehalten werden. Die Eröffnungsrede von Du-Yul Song wurde zeitgleich vom nord- und südkoreanischen Fernsehen übertragen – ein symbolisches Medienereignis, das die Relevanz des Treffens eindrucksvoll unterstrich.

taz: Sie verstehen sich in erster Linie als Philosoph – ein Beruf, der selten mit Realpolitik in Verbindung gebracht wird. Wie kam es dazu, dass Sie sich – von ihrem Wohnort Berlin aus – für die Treffen von nord- und südkoreanischen Wissenschaftlern eingesetzt haben?

Du-yul Song: Sowohl im Norden wie im Süden Koreas ist die Wiedervereinigung ein zentrales Thema. Aber in beiden Staaten ist man paradoxerweise überhaupt nicht auf die Eventualität einer Wiedervereinigung vorbereitet – es gab bis zu unserer ersten Konferenz keinen Rahmen, in dem sich Akademiker konkret mit den voraussehbaren Problemen und Chancen eines solchen Szenarios beschäftigen konnten. Über dieses Manko diskutierte ich mit einer Delegation von südkoreanischen Politologen, die 1994 zu einer Konferenz nach Berlin gekommen waren. Wir saßen nach dem offiziellen Programmschluss in einem spanischen Restaurant und entwickelten ganz spontan die Idee, dass wir als Akademiker unterhalb der Regierungsebene solche Gespräche initiieren müssten. Ein Jahr später und nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, in die nicht zuletzt der südkoreanische Geheimdienst verwickelt war, trafen dann tatsächlich je 25 Wissenschaftler aus dem Norden und Süden in Peking zum Gespräch zusammen. In diesem Jahr ging es um „Frieden und Kooperation“ – und aus beiden Staaten kamen Politologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler, außerdem waren vier weitere Auslandskoreaner aus den USA eingeladen, ebenfalls Politologen – ich war der einzige Philosoph.

Nicht nur als Philosoph nehmen Sie auf diesen Konferenzen eine Sonderposition ein: Sie sind auch derjenige, der die Teilnehmer nominiert. Wie kommt es, dass beide Seiten Sie in der Rolle als Vermittler akzeptieren?

Dazu möchte ich etwas ausholen und über mein Selbstverständnis als Grenzgänger – als „Border Rider“ – erzählen. Der Begriff des Border Rider stammt ursprünglich aus der schottisch-englischen Grenzregion und wurde später, als Australien zur Strafkolonie wurde, gewissermaßen professionalisiert. Den Border Riders haftete immer etwas Anrüchiges an, in Australien haben stets Aborigines diese Aufgabe übernommen, weil nur sie das Terrain gut genug kannten. Die Funktion machte sie zu Außenseitern, aber sie waren für die Kommunikation im Land unerlässlich. So ähnlich ist es auch in meinem Fall. Ich verstehe mich in dreifacher Hinsicht als Grenzgänger. Zwischen Nord- und Südkorea, aber auch als Philosoph, der zwischen asiatischen und europäischen Denktraditionen seine Heimat gefunden hat. Und schließlich hat mich auch das Exil in Deutschland zum Grenzgänger werden lassen, weil ich hier – mit durchaus kritischer Distanz – miterlebt habe, wie die Teilung des Landes friedlich überwunden wurde. In Korea rührt meine Glaubwürdigkeit als Vermittler wohl daher, dass beide Seiten genauestens auch über die negativen Seiten meines Schicksals informiert sind – etwa dass ich aus Angst vor „Unfällen“ meinen Söhnen nicht erlauben würde, nach Südkorea zu reisen. Ich bin insofern eben nicht nur ein unbeteiligter Beobachter der Teilung des Landes, ich leide selbst an der Teilung. Gleichzeitig ist meine Außenseiterrolle auch die des produktiven Dritten – ich gehöre zu keiner Gesellschaft mehr, und dadurch entstand eine besondere Lebensaufgabe, deren Reiz ich niemals erfahren hätte, würde ich etwa als Physiker ohne politisches Engagement ein ganz normales Leben in den USA führen und ab und zu meine Familie in Korea besuchen.

Wie sieht Ihre Arbeit als Vermittler konkret aus?

Ich bekomme hier in Berlin regelmäßig Telefonate aus Seoul und Pjöngjang – jeweils mit der Bitte um Weiterleitung. Damit ist einmal eine ganz praktische Aufgabe verbunden, da es zwischen Nord- und Südkorea ja keine direkte Telefonleitung gibt. Meine eigentliche Arbeit besteht aber darin, die jeweiligen Nachrichten richtig zu „übersetzen“. Nach fünf Jahrzehnten der Teilung sprechen Nord- und Südkorea einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Geht es beispielsweise um die politische Führung, wendet der Süden stets den Plural, der Norden den Singular an: Solche Feinheiten gilt es genauestens zu beachten und gegebenenfalls zu ändern. Um als politischer Dolmetscher die Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden und Gespräche in Gang zu bringen, muss ich zudem entscheiden, welche Informationen ich weiterleiten kann und welche ich – noch – zurückhalten muss. Beide Seiten wissen um meine Methode, ich habe darüber oft in den Medien beider Länder gesprochen.

Bei Ihrer Arbeit ohne offiziellen Auftraggeber drängt sich die Frage auf: Wer finanziert die Konferenzen?

Für Europäer mag es befremdlich klingen, aber unter meinen Freunden in Südkorea gibt es glücklicherweise in der Geschäftsführung des Großkonzerns SK einen alten Schulkameraden, der alljährlich ein Budget von 150.000 US-Dollar zur Verfügung stellt.

Die Konferenz Ende März fand in einer extrem zugespitzten Lage statt: Nordkorea und sein mutmaßliches Atomwaffenpotenzial machten das Land zu einem Spitzenreiter auf Bushs „Achse des Bösen“.

Die aktuelle Politik übte einen gewaltigen Druck auf das Treffen aus – tatsächlich war es noch bis zwei Stunden vor Konferenzbeginn unklar, ob wir überhaupt tagen konnten. Nordkorea ist außerordentlich nervös und fühlt sich extrem bedroht, zudem wirkte die Entsendung von südkoreanischen Soldaten in den Irak natürlich als starke Provokation. Andererseits ist der Spielraum Südkoreas gegenüber den USA, seit Präsident Roh im Amt ist, wahnsinnig eng geworden. Als Resultat gab es seit seinem Amtsantritt noch keine Gespräche zwischen dem Norden und dem Süden auf Regierungsebene.

Fördert die aktuelle Situation möglicherweise neue Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Staaten zutage?

Es ist eher so, dass die momentane Lage alte Gemeinsamkeiten in ein neues Licht stellt. Im Sinne von Nietzsches Sklavenmoral gibt es in beiden koreanischen Staaten den sich selbst bejahenden Anerkennungsdrang, der die Initialzündung zum Streben nach Befreiung ist. Vor der Teilung des Landes litt das ganze Volk über tausend Jahre unter der sinozentrischen Weltherrschaft, von 1910 bis 1945 prägte die furchtbare japanische Kolonialzeit die gemeinsame Geschichte. Luise Rinser hat einmal gesagt, das Schicksal Koreas lasse sich nur mit dem Nordirlands und dem Polens vergleichen. Mit diesen Ländern verbindet uns das Außenseiterdasein, das einen besonderen, von außen nur schwer verständlichen Nationalismus hervorgebracht hat. Von der südkoreanischen Variante konnte man sich zuletzt während der Fußball-WM im vorigen Jahr ein Bild machen. Auf Nichtkoreaner wirkt dieses Nationalgefühl in einem so genannten Schwellenland sicher oft unzeitgemäß, man hält es vielleicht sogar für provinziell – eine Ungleichzeitigkeit im Zeitalter der Globalisierung. Aber im Kern handelt es sich dabei um eines der Ressentiments gegen die „neue Weltordnung“, von denen die Geschichte außerhalb der „Ersten Welt“ nach wie vor geprägt wird.

Was waren für Sie die wichtigsten Ergebnisse der Konferenzen?

Die Aufgabe der Akademiker im Wiedervereinigungsprozess zu klären. Koreaner mögen es nicht gern, wenn man beispielsweise über die Kosten einer Wiedervereinigung redet – man wird dann gleich als „zynisch“ abgestempelt. Für die meisten ist die Wiedervereinigung nur eine Herzensangelegenheit. Wir müssen den Menschen in Nord- und Südkorea aber verständlich machen, dass Versöhnung nicht nur im Herzen geschieht, sondern auch einen klaren Kopf braucht.

DOROTHEE WENNER, 42, ist seit 1989 taz-Autorin. Für das Internationale Forum der Berliner Filmfestspiele besuchte sie in den vergangenen Jahren mehrfach Südkorea – verbrachte aber nicht die ganze Zeit im Kino