„Nur Pessimisten sterben“

Vor siebzehn Jahren explodierte der Reaktorblock 4 des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl. Die UdSSR ist mittlerweile untergegangen, doch das heute zur Ukraine gehörende Tschernobyl strahlt weiter. Geschäftstüchtige Behörden wollen nun aus der Sperrzone um das stillgelegte Kraftwerk eine Touristenattraktion machen. Die Gefahren eines Besuchs werden verschwiegen

von FLORIAN HARMS

Eine wunderschöne Natur. Schlanke Birken und knorrige Pinien wurzeln in sandigem Boden, ein Flüsschen schlängelt sich durch frisch gemähte Wiesen. Wohin wird das Heu gebracht? Wie viel wird an die Kühe, die am Horizont entlangtrotten, verfüttert? Wer bekommt die Milch der Kühe zu trinken? Diese Fragen drängen sich dem Besucher als erste auf, nachdem er frühmorgens in der ukrainischen Hauptstadt Kiew aufgebrochen ist, um hundert Kilometer in den Norden, bis fast an die weißrussische Grenze, zu fahren. Später werden es viele Fragen mehr sein.

Am Morgenhimmel ballen sich graue Wolken, zwischen den rostenden Bushaltestellen am Straßenrand stehen vereinzelt Holzkreuze. Sie erinnern nicht an Verkehrstote, sondern an die Opfer einer Katastrophe, die siebzehn Jahre zurückliegt, deren Folgen aber noch in dutzenden, womöglich hunderten von Jahren spürbar sein werden. Plötzlich hören die Schlaglöcher auf der schnurgeraden Straße auf, dann eine Abzweigung: Tschernobyl. An einem Checkpoint, dreißig Kilometer vor dem Ziel, muss der Reisende den Bus wechseln, um hineinzufahren in die berüchtigtste Sperrzone der Welt. Eine resolute Nachrichtenoffizierin steigt zu und schmettert den Besuchern ein „Willkommen in Tschernobyl!“ entgegen.

Geht es nach dem Willen der ukrainischen Behörden, sollen so schnell wie möglich neben Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten auch hunderte ganz normaler Touristen in der 2.600 Quadratkilometer großen Sperrzone um den am 26. April 1986 explodierten Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks begrüßt werden. Die Behörde „Chornobylinterinform Agency“ bietet bereits Tagestouren an und will das Projekt nun verstärkt vorantreiben. Ihre Vertreter geben sich enorme Mühe, den Ort, dessen Name als Synonym für die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie gilt, als ungefährlich darzustellen. „Die Sperrzone ist sicher“, sagt Vizedirektor Nikolai Petrow und fügt beflissen hinzu: „Wir fürchten uns hier vor nichts, wir sind Optimisten. Nur Pessimisten sterben.“

In einem Konferenzraum, zwischen dunkelbraunen Möbeln aus Sowjetzeiten erläutert Petrow den Besuchern die Messungs- und Entsorgungstätigkeiten der viertausend Wissenschaftler, Ingenieure und Bauarbeiter, die im 15-Tage-Rhythmus in der Sperrzone arbeiten. Das derzeit aufwendigste Projekt ist die Planung einer neuen, 768 Millionen Dollar teuren Schutzhülle, die bis zum Jahr 2008 den undichten Sarkophag um den Unglücksreaktor ergänzen soll. Touristen dürfen bis an den Stacheldrahtzaun um das am 15. Dezember 2000 vollständig stillgelegte Kraftwerk herangehen. Das Messgerät zeigt achthundert Röntgenmikrogramm radioaktive Strahlung pro Stunde an, das ist nicht mehr als die kosmische Strahlung, die man während eines Atlantikflugs abbekommt. Doch dass man winzige Partikel des radioaktiven Staubs einatmet, von dem sich noch heute rund zehntausend Tonnen im Innern des undichten Sarkophags befinden, kann niemand ausschließen. Aufgrund der Staubbelastung sind in den vergangenen Jahren mindestens zweitausend Menschen in der weiteren Umgebung des Kraftwerks an Schilddrüsenkrebs erkrankt.

Oleg, der in Kiew japanische Autos verkauft, hat sich für den Ausflug ins Katastrophengebiet seinen alten blauroten Trainingsanzug übergestreift – den kann er hinterher wegschmeißen. „Reine Vorsichtsmaßnahme“, sagt er, „die Behörden beteuern, ein Besuch in Tschernobyl sei ungefährlich. Aber in den Zeitungen steht immer wieder das Gegenteil.“

Es ist ein ganz neues Konzept, das Vizedirektor Petrow und sein Chef Pawel Pokutny entwickeln wollen: Umwelttourismus im Katastrophengebiet. Weil die Natur in der Sperrzone seit siebzehn Jahren vom Menschen kaum gestört wurde, hat sich eine seltene Artenvielfalt entwickelt. Andernorts vom Aussterben bedrohte Tiere wie Wölfe und Wildpferde streifen durch die Wälder und Wiesen. Den Seeadlern macht es nichts aus, dass die Bäume, über denen sie kreisen, hochgradig strahlen, da sie in kontaminiertem Boden wurzeln. Dreitausend Röntgenmikrogramm radioaktive Strahlung pro Stunde und mehr werden in den Wäldern gemessen. Niemand darf sich den Bäumen ohne Schutzkleidung nähern. Auf die Frage, was im Herbst mit den herunterfallenden und vom Wind davongetragenen Blättern passiert, findet die Nachrichtenoffizierin keine Antwort. Oleg sagt auch nichts.

In einem Bericht vom Januar 2002 haben Experten im Auftrag der UNO vorgeschlagen, die Möglichkeiten des Wissenschafts- und Umwelttourismus in der Sperrzone auszuloten. Die Idee ist Teil eines radikalen Umdenkens: Weil es für die sieben Millionen Menschen in der weiteren Region um Tschernobyl wirtschaftlich immer steiler bergab geht, soll die Abschottung durch eine gezielte Förderung abgelöst werden. „Es klingt seltsam, aber gerade in der Sperrzone hat die Natur eine außergewöhnliche Chance“, sagt Kalman Mizsei vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP. Daran knüpfen nun ukrainische Reiseveranstalter wie etwa „Sam“ die Hoffnung, zahlungskräftige Touristen anzulocken, die in der Sperrzone eine unberührte, aber verstrahlte Natur erleben wollen. Der Verdacht, dass man unter dem Deckmantel des ökologischen Interesses auch auf die Sensationslüsternheit von Abenteuerausflüglern spekuliert, wird nicht ausgeräumt: Nervenkitzel zum Preis von 193 Dollar.

Die Risiken eines Besuchs in Tschernobyl sind zumindest umstritten. Die direkte Strahlendosis scheint verkraftbar, doch die Staubbelastung und kaum einschätzbare Langzeitgefährdungen der Gesundheit durch den Kontakt mit kontaminierten Gegenständen oder Pflanzen – etwa bei einem Rundgang durch die drei Kilometer vom Atomkraftwerk entfernte „tote Stadt“ Pribjat – werden nicht ausgeschlossen. Niemand hält einen davon ab, in dem verfallenden „Kulturpalast“ über Trümmer sozialistischer Wandgemälde und herumliegende Möbelstücke zu klettern. Fragen nach möglichen Gesundheitsgefahren bleiben unbeantwortet. Auch Oleg schweigt, schaut nur auf die Betonruinen.

„Es ist kaum kontrollierbar, dass Touristen sich nur in dekontaminierten Bereichen bewegen oder dass sie keine verstrahlten ‚Souvenirs‘ mitnehmen und so auch andere gefährden“, gibt Stefan Füglister, ehemaliger Kampagnenleiter „Atom“ von Greenpeace, zu bedenken. Er kennt die Verhältnisse in der Sperrzone und die Nachlässigkeit der Behörden ebenso aus eigener Anschauung wie Martin Walter aus dem Vorstand der Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs. „Mir macht weniger die erhöhte Hintergrundstrahlung Sorgen als viel eher die Möglichkeit, Staubpartikel mit ungewisser Belastung – etwa Plutonium – eingeatmet zu haben“, meint Walter.

Peter Hählen, Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung für Atomenergie und ebenfalls seit Jahren mit Tschernobyl vertraut, hält dagegen: „Uns ist kein Fall bekannt, dass ukrainische Experten in Sicherheitsfragen gemogelt hätten. Wenn jemand sich durch eigene Anschauung ein Bild von Tschernobyl machen will, ist es keine Lösung, zu sagen: Das geht nicht.“ Der Strahlenmediziner Edmund Lengfelder vom Otto Hug Institut in München, der ebenfalls mehrmals in Tschernobyl war, hält die Strahlenbelastung bei einem geführten Tagesausflug für ungefährlich. Allerdings rät er, Hand-Mund-Kontakte zu vermeiden, um keine belasteten Partikel zu inhalieren, etwa beim Rauchen. „Jenseits der Wege erhöht sich die Strahlung innerhalb weniger Meter auf ein Zigfaches“, warnt er und trifft wohl den Kern des Problems, wenn er sagt: „Indem man Tschernobyl für Touristen öffnet, wird der Eindruck erweckt, man habe dort alles im Griff. Das stimmt aber nicht. Die Weltöffentlichkeit wird an der Nase herumgeführt.“

Was Touristen außer dem wissenschaftlichen Interesse nach Tschernobyl ziehen könnte, ist wohl allenfalls die Faszination des Grauens, ohne wirklich mit dem Grauen konfrontiert zu werden – etwa den nach der Katastrophe mit Missbildungen geborenen Kindern und den erbärmlichen Lebensbedingungen im Norden der Ukraine und im Südosten Weißrusslands. In der einst 47.000 Einwohner zählenden Stadt Pribjat dagegen wohnt niemand mehr. Gräser und Sträucher haben die Straßen zurückerobert, fahles Licht fällt in fensterlose Plattenbauten. Es ist totenstill. Man sieht, hört, riecht und spürt sie nicht, doch auf jedem Grashalm und an jedem Sandkorn lastet die Strahlung. Hier hat der Mensch die Natur zu seinem Feind gemacht. Eine wunderschöne Natur.

FLORIAN HARMS, 29, Islamwissenschaftler & Politologe, ist freier Journalist in Hamburg