boxen ohne boxen von SUSANNE FISCHER
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Meine Freundin Kathrin und ihr Mann Ralf sehen sich selten, obwohl sie die Wohnung teilen. Manchmal bin ich allerdings nicht sicher, ob sie ihren Haushalt nicht in Wechselschicht betreiben, weil man fast nie beide gleichzeitig zu Hause antrifft. Immer ruft der Job oder ein zeitaufwändiges Hobby Ralf oder Kathrin in die feindliche Außenwelt. Arbeiten, Fallschirmspringen, Fortbildung, Schlagzeugspielen, Thai Bo.

Thai Bo ist das Neueste, Boxen ohne Boxen. Man wird tierisch fit dabei, so fit, dass man noch schneller von zu Hause wegkommt. Dabei muss man übrigens in einer Tour „Punch! Jab! Punch! Jab!“ kreischen. Das hilft dann, falls man doch mal zu Hause bleiben muss. Aber jedenfalls sprechen Ralf und Kathrin noch miteinander, allerdings meist am Telefon.

Kathrin ruft Ralf auf der Arbeit an, weil sie sich Sorgen macht. Morgens, als sie sich zwei Sekunden sahen, ging es Ralf nämlich nicht gut. Wenn es Männern nicht gut geht, dann nachdrücklich, ausführlich und mit Seufzen und Röcheln, das weiß man ja. Wie aber erschrak Kathrin, als sie ihren Liebsten am Telefon hörte, der binnen Stunden eine schwere Erkältung ausgebrütet hatte.

Sie: „Liebling, wie geht es dir denn?“ Er: „Überhaupt nicht gut.“ Sie: „Wie war denn die Besprechung?“ Er: „Ach ja, ging so.“ Sie, mitfühlend: „Das ist ja blöd, dass das ausgerechnet heute sein musste, die Besprechung. Wo es dir so schlecht geht.“ Er: „Ja. Eigentlich geht es mir aber schon seit Weihnachten schlecht.“ Sie: „Seit Weihnachten? Jetzt übertreibst du aber wohl ein bisschen.“

Tatsächlich, damit hatte Rolf die niedersächsische Selbstmitleidsolympiade in der Sparte „Befindlichkeit“ gewonnen. (Frauen sind in dieser körperbetonten Sportart nicht zugelassen, sie kämpfen dafür in der Abteilung „Beziehungselend“ ganz unter sich um die goldene Krokodilsträne.)

Er, jetzt auf der Siegerstraße: „Nein. Ich bin seit Weihnachten krank.“ Sie, ehrlich erschüttert und verblüfft: „Da solltest du aber mal zum Arzt gehen.“ Er: „Ich gehe heute ja zum Arzt.“ Sie: „Davon hast du aber gar nichts gesagt.“ Er, stur: „Ich gehe heute zum Arzt.“ Sie versucht, die Sportart zu wechseln: „Da brauchst du ja heute nicht mehr zum Thai Bo zu gehen, wenn es dir so schlecht geht.“ Er: „Nein, ich gehe nicht zum Thai Bo.“ Sie, überrascht: „Da kannst du ja heute mal eher nach Hause kommen.“ Er, empört: „Ich bin doch schon zu Hause!“

Und während Kathrin noch überlegt, ob Ralf sie fertig machen will oder ob er schon im Fieberdelirium unterm Schreibtisch hängt und gar nichts dafür kann, fällt ihr Blick auf das Telefondisplay: Sie hat sich verwählt.

Was sagt sie zu ihrer Entschuldigung? „Er sprach doch bayerisch. Wie Ralf. Und ganz undeutlich, wegen der Erkältung.“ Was sagt Ralf? „Es geht mir zwar furchtbar schlecht, aber natürlich gehe ich zum Thai Bo!“ Ja, daran hätte sie es wohl merken sollen. Was aber sagt der falsche und Kathrin gänzlich unbekannte Ralf, der gar nicht so heißt, zu Kathrins überraschender telefonischer Fürsorge? „Ich habe mich auch schon gewundert.“