Recht auf ein anständiges Grab

Unweit Sankt Petersburgs entsteht derzeit, sechzig Jahre nach dem Ende der grausamen Belagerung des damaligen Leningrad, der größte deutsche Soldatenfriedhof. Über deutsch-russische Unterschiede in der Gedächtniskultur

aus Sologubowka AXEL VOGEL

Sologubowka im Herbst. Weithin sichtbar liegt die russisch-orthodoxe Kirche Mariä Himmelfahrt auf einer Anhöhe. Für Elisabeth Richter, 70, Rentnerin aus Fellbach, ist der kleine Ort bei Sankt Petersburg so unbekannt wie für viele der rund tausend Besucher, die es an diesem sonnigen Septembersamstag zur Einweihung des restaurierten Gotteshauses aus dem 19. Jahrhundert gezogen hat.

Karl Michael Liehner, 83, aus Aachen kennt die Kirche wie die Region hingegen sehr gut. Hier hätte er vor 62 Jahren als Soldat beinahe sein Leben verloren. Mehr als 1,8 Millionen russische Zivilisten und Soldaten sowie 150.000 Wehrmachtsangehörige starben zwischen August 1941 und Januar 1944 bei einer der grausamsten Militäroperationen des Zweiten Weltkriegs, der Belagerung Leningrads, das heute wieder Sankt Petersburg heißt. Hitler hatte befohlen, die siebzig Kilometer von Sologubowka entfernte Metropole durch schieres Aushungern zu vernichten. Die Belagerung dauerte neunhundert Tage.

Mit dem im Jahr 2000 um die Kirche von Sologubowka errichteten Friedenspark versucht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) den Brückenschlag zwischen Erinnerung und Versöhnung: Achtzigtausend Gefallene sollen einmal auf dem dann weltweit größten deutschen Soldatenfriedhof ihre letzte Ruhe finden. Als Zeichen des neuen Miteinanders restaurierte der Volksbund das von Wehrmacht und Roter Armee zerstörte Gotteshaus.

Ein Paar Stiefel, eine Zahnprothese, Schädel, Knochen, eine Erkennungsmarke. Was von einem Soldatenleben übrig bleibt, passt in einen 35 mal 70 Zentimeter großen Holzsarg. Viele solcher Särge, wie sie auf der Datscha von Rentnerin Vera Smirnowa, 75, im Dorf Datschnoje stehen, hat Lisa Lemke in den vergangenen Jahren gesehen: Die Bergung menschlicher Überreste ist ihr Beruf. Die 49-jährige Russin und ihr deutscher Mann Uwe Lemke, 44, leiten den Umbettungsdienst des Volksbundes in Nordrussland zwischen Murmansk und Rschew. Dabei legen sie Wert auf die Feststellung: „Wir sammeln keine Knochen, wir exhumieren Tote.“

Seit 1993 hat der VDK anhand von Listen der „Deutschen Dienststelle“, ehemals „Wehrmacht-Auskunftsstelle“, rund 77.000 Gefallene umgebettet, davon tausende im Petersburger Raum. Im Garten von Wera Smirnowa sind die Umbetter auf ein Dutzend Gräber gestoßen. Sie gehören zu einem deutschen Soldatenfriedhof in Datschnoje nahe dem Verkehrsknotenpunkt Mga – ein Gräberfeld wie viele in der umkämpften Region. Allein in Mga zählen Lemkes vierzehn Friedhöfe.

Auch vor der zu Sowjetzeiten als Viehstall und Lager zweckentfremdeten Kirche von Sologubowka, die deutschen Truppen als Lazarett und Gefängnis gedient hatte, standen Soldatenkreuze in Reihen. „Beim Rückzug vor der Roten Armee“, erläutert Volksbund-Pressesprecher Fritz Kirchmeier, „wurden viele Friedhöfe eingeebnet, um Verluste zu verbergen.“ Nach 1945 zogen Holzkreuze häufig Grabräuber an – oder sie wurden als Brennmaterial verheizt. Die Umbettungen riefen auch Devotionalienjäger auf den Plan, die versilbern, was sich finden lässt, vom Stahlhelm bis zur Erkennungsmarke.

Für ein würdiges Andenken der in Osteuropa Gefallenen setzt sich der VDK mit Moskaus Segen seit 1992 ein. Der humanitäre Verein, der sich im Auftrag der Bundesregierung um den Erhalt von 843 Kriegsgräberstätten in 43 Staaten kümmert, verfügt über ein vor allem aus Spenden gespeistes Jahresbudget von vierzig Millionen Euro. Die geschätzten Kosten für Sologubowka: 2,5 Millionen Euro – davon 1,4 Millionen für die Kirchensanierung.

Vor Ort betreute Sammelfriedhöfe sind das Ziel. „Sonst könnten wir die Gräber nicht unterhalten“, erklärt Kirchmeier. Was die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit angeht, hält man es in der Kasseler VDK-Zentrale mit Albert Schweitzer: „Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens, und ihre Bedeutung als solche wird immer zunehmen.“

Nicht überall jedoch stößt das Ansinnen auf offene Ohren. Namentlich Weißrussland bleibt ein blinder Fleck, so VDK-Präsident Reinhard Führer, auch der Gouverneur im Kaukasus sperre sich gegen Umbettungen. Überhaupt machten sich Ressentiments weniger in Moskau als in den Regionen bemerkbar. Sie halten sich überall dort, so Führer, „wo die Rote Armee anders als in Leningrad nicht unmittelbar als Sieger hervorging“. Oft noch allzu präsent sind die Kriegsgräuel. Führer tritt dafür ein, dass die deutsche Verantwortung für den Weltkrieg nicht aus dem Blick gerät und einseitigem Erinnern Platz macht: „Echte Versöhnung kann es nur mit der ganzen Wahrheit geben.“

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die akribische Trauerarbeit der Besiegten einen sensiblen Punkt in der Geschichte der Sieger berührt. Die Sowjetunion bestattete ihre Gefallenen oft anonym in Massengräbern. „Unter Stalin war das Kollektiv alles, der Mensch nichts“, erklärt Lisa Lemke. So erinnern in Russland vor allem monumentale Denkmäler an die toten Soldaten.

Allein in Nordwestrussland sollen 1,5 Millionen russische Soldaten verscharrt worden sein, in Schützengräben oder Massengräbern wie dem Sankt Petersburger Piskarjowski-Friedhof. Die Organisation „Wojennye Memorialy“ bemüht sich um Aufklärung der Soldatenschicksale, oft jedoch fehlen Unterlagen – nicht zuletzt weil viele Rotarmisten aus Aberglauben das Plastikröhrchen mit ihrem Namen nicht bei sich trugen. Auch in der postkommunistischen Zeit ließ man die Toten und das unrühmliche Kapitel weitgehend ruhen, registrierte aber durchaus anerkennend die Pflege der 760.000 sowjetischen Soldatengräber auf deutschem Boden durch den Volksbund.

Viele einflussreiche Veteranen der Roten Armee beobachten die deutschen Umbettungsaktionen in Russland deshalb mit einer „Mischung aus Neid und Respekt“, so ein Experte, der ungenannt bleiben will. Über den Verbleib der bei der Verteidigung von Leningrad gefallenen Russen wissen viele Familien nichts. Gleichwohl ist die Zusammenarbeit des Volksbundes mit den russischen Offiziellen nahezu überall konstruktiv, oft fast freundschaftlich.

Auch Rentnerin Smirnowa begleitet die Umbetter mit Tee und guten Worten. Und das, obwohl die Blockade Leningrads zehn ihrer Familienangehörigen das Leben kostete und ihr eigener Vater seit 1942 vermisst wird. „Trotzdem“, findet sie, „hat jeder Soldat das Recht auf ein anständiges Grab.“ Die Toten in ihrem Garten seien nichts „als Kinder deutscher Eltern“.

Obwohl jede Grabstelle auf dem Friedenspark in Sologubowka penibel kartiert ist, stehen auf dem weiten Rasen nur vereinzelt Kreuze. Von den bislang beigesetzten 32.000 Soldaten, so Lemke, konnten etwa zwei Drittel identifiziert worden. Auf einer Reihe von Steintafeln am Friedhofseingang sind in langen Kolonnen die Namen der Gefallenen eingemeißelt.

Wer hier nicht fündig wird, sucht in der neuen Gedenkstätte im Kirchenkeller. Dort stehen in Büchern die Namen aller 850.000 in Russland gefallenen und vermissten Deutschen. Hier muss sich auch der Name von Elisabeth Richters Bruder Martin Teufel finden. Der damals 25-Jährige gilt sei 1944 im Raum Leningrad als vermisst. Eine Woche später fiel der zweite Bruder, Hans Heinrich Teufel, 28, beerdigt in der Ukraine. „Martin könnte hier, in Sologubowka, liegen“, sagt die Rentnerin bewegt. „Ich wüsste es halt irgendwann gerne.“

Gewissheit von den Umbettern vor Ort erhofft sich auch Elisabeth Hellwig, 76. Ihr Bruder Gerhard Weckmann fiel 1942 mit zwanzig Jahren. Vergilbte Bilder von einem Ehrensalut zu seiner Beerdigung besitzt sie noch, der genaue Ort allerdings ist ihr nicht bekant. „Die Sehnsucht, zu wissen, wo er beerdigt ist, kam erst im Alter“, sagt die Rentnerin aus Detmold. Christa Flake, 67, konnte ihrem Vater Johann Flake, gefallen 1943 mit 34 Jahren, bereits ein Kreuz setzen: „Das hatte etwas Überwältigendes: Es ist, als ob er neben mir steht.“

Karl Michael Liehner entdeckt auf den Steintafeln die Namen zweier gefallener Freunde. Auch der seine hätte dort stehen können. Liehner, der als Batteriechef lange im Blockadering um Leningrad kämpfte und verwundet wurde, missfällt das „selektive Erinnern“ mancher Mitreisender. Deshalb hat er ausdrücklich „allein für den Wiederaufbau der Kirche“ gespendet und deshalb ist ihm auch eine Taxifahrt zum russischen Soldatenfriedhof auf den benachbarten Sinjawino-Höhen wichtig.

Zweifel am Krieg, gesteht er, sind ihm erst spät gekommen. „Wir kannten Hitlers Weisung nicht, die Stadt systematisch auszuhungern.“ Bereits im Winter 1941, zur Zeit des furchtbarsten Elends in Leningrad, hatte sein Vorgesetzter verkündet, „dass die Einheit mehr Granaten abgefeuert hat, als im Krieg 1870/71 verschossen wurden“. Doch was seine vier Haubitzen anrichteten, reflektierte Liehner erst „ganz langsam“, wie er sagt.

„In der Gefahr macht man halt seine Arbeit“, pflichtet Hermann Unverdorben bei. Zu den Aufgaben des 81-Jährigen aus Rösrath gehörte es 1943, Turm und Dach der Kirche von Sologubowka abzutragen, um der nahenden Front möglichst wenig Zielpunkte zu bieten. Jetzt steht die geschundene Kirche wieder. Gerhard Petschull, 79, der als Infanterist im Krieg beide Unterschenkel verlor, ist inzwischen zum sechsten Mal vor Ort, eng verbunden mit russischen Veteranen, deren „sehr freundliche Gefühle“ er schätzen gelernt hat. 1978, als er erstmals nach dem Krieg in die Region reiste, hatte ihn noch die Angst vor der Konfrontation mit den ehemaligen Kriegsgegnern begleitet. Ein Nebeneinander, das ihm damals noch unmöglich schien, ist längst Alltag geworden.

Versöhnt scheint auch der russische Veteran Wladimir Spingler, 80, im Krieg Führer einer Aufklärungsbrigade der Roten Armee. Er habe die Errichtung des Friedensparks unterstützt, betont er. Doch den deutschen Sammelfriedhof zu errichten ohne ein würdiges Andenken an die sowjetischen Verteidiger, kam für den Sankt Petersburger nicht in Frage.

Am 27. Januar, der vielen Sankt Petersburgern als Jahrestag der Befreiung vom mörderischen Blockadering heilig ist, zieht es ihn in den Schatten der Kirche von Sologubowka. Hier erinnert ein mit verrosteten sowjetischen Stahlhelmen geschmückter Gedenkstein an seine gefallenen Kameraden. Wo die ihr Grab gefunden haben, wird der alte Herr wohl nicht mehr erfahren.

AXEL VOGEL, 42, lebt in Wachtberg und arbeitet als Journalist vor allem für den Bonner Generalanzeiger und die NZZ