Wo nur ein Ypsilon existiert

Neodadaistische Multimediainstallation: Auf den „Seven Screens“ vor dem Münchner Osram-Gebäude generiert der Medienkünstler Bjørn Melhus mit Hilfe einer Klang- und Spracherkennungssoftware aus dem aktuellen Programm des Informationssenders B 5 in Echtzeit Bild- und Tonsequenzen

Hat da einer „Eckstein“ gesagt? Und wer war noch mal „Ypsilon“? Auch, dass hier gerade eine „Kehle gezeugt“ wurde, nimmt man dem Kunstwerk nicht so ganz ab. In grellem Gelb stehen die Worte auf flimmernd schwarzem Grund, nur wenige Sekunden lang, dann schiebt sie ein muskulöser, kahl rasierter Supermann hinauf in den Nachthimmel.

Die neue Installation von Bjørn Melhus auf den „Seven Screens“ vor der Osram-Zentrale in München ist eben ein Medienexperiment. Ein halbes Jahr bringen die 700.000 kleine LED-Lämpchen auf den sieben Stelen, die seit ihrer Entstehung 2006 unter anderem auch Diana Thater bespielte, Begriffe zum leuchten, die eine Spracherkennungssoftware aus dem aktuellen Radioprogramm der Öffentlich-Rechtlichen herausliest. „Krise“, „Rezession“, „Erfolg“ – diese Reizworte blinken rot. „Nürnberg“, „Kilometer“, „FDP“ – was das Programm kalt lässt, bleibt weiß. Der unruhige Hintergrund, azurblau, schwarz oder flammend rot, reagiert auf den Rhythmus des Wortflusses. Ausgerechnet während der Börsennachrichten tut sich die Software schwer. Sie kann die Silben nicht zuordnen. Dann kriechen Superhelden in hautengen, blauen Körperstrümpfen über den Bildschirm, die Retter, die „Screensavers“, nach denen Melhus seine Installation benannt hat. Sie haben sein Gesicht.

An den etwa 90.000 Autofahrern, die täglich auf der zentralen Verkehrsader „Mittlerer Ring“ vorbeibrausen, zischen die Wortfetzen zusammenhanglos vorüber. Wer im Stau steht und das Inforadio des Bayerischen Rundfunks „B 5“ eingeschaltet hat, kann einzelne Begriffe aus dem gerade Gehörten aufpoppen sehen und verfolgen.

Melhus’ Installation führt vor, wie Menschen im Alltag Informationsbrocken vor die Füße fallen, die oft nur schwer einzuordnen sind. Und wir leben in unruhigen Zeiten, geschüttelt, nicht gerührt. Da braucht es schon Retter, eben Superhelden, die einen Moment für Ruhe sorgen und mal mit der Informationsflut aufräumen, wenn wir gerade die Welt nicht mehr verstehen. Allein in diesem Jahr seien drei Superhero-Filme in die Kinos gekommen, referiert der Künstler. Der brachiale Kraftprotz hat 2008 Schluss gemacht mit dem von Eisbär Knut ausgelösten Knuddelwahn des letzten Jahres. Auf der Brust tragen Melhus’ „Savers“ logisch schlüssig um sich selbst kreisende Atome, denn schließlich reagieren sie auf ein Radioprogramm, sind also „radio-aktiv“.

Den Flachwitz verzeiht man der Installation so gerade eben. Doch als visuelle Arbeit steht sie für sich, plakativ, bunt und flüchtig wie ein Werbespot oder Comicstrip in einer großstädtischen Allerweltsumgebung: Beton, Brücken, Schallschutzzäune, Bushaltestellen. In Kombination mit dem Radioprogramm, begriffen also als doppelter Angriff auf Gehör und Sehnerv, führt sie vor, wie viel unsere einzelnen Sinne überspringt. Denn oft schnappt erst das Auge auf, was das Ohr schon wieder vergessen hatte. Die Fehler, die die Technik beim Einlesen einbaut – und die dem Kunstwerk beinahe einen neodadaistischen Charakter verleihen –, schärfen dabei nur die Aufmerksamkeit des Betrachters. Die virtuelle Welt ist eben noch in Ordnung. Aus einer „Ypsilanti“ wird wieder ein harmloses „Ypsilon“. Ein „Schäfer-Gümbel“ kommt hier gar nicht vor. Wie gut, dass es die „Screensavers“ gibt, die uns davor bewahren. JOHANNA SCHMELLER