Der Richtigtuer

Tony Blair gilt als Pragmatiker, der sein Programm gern der Realität anpasst. Dabei wird seine ethische Motivierung übersehen. Sie lässt ihn trotz aller Widerstände Krieg führen

Beim Azoren-Gipfel hat Tony Blair den Eindruck eines völlig panischen Glücks-spielers gemacht

Die Welt hat ihre Deutungen schnell parat: Warum George W. Bush sich verhält, wie er sich verhält, dafür gibt es eine Reihe Erklärungen (u. a. Rache für Niederlage des Vaters). Ähnliches gilt für den antiimperialen Heldenmut von Jacques Chirac (egozentrischer Gaullismus) und den Friedenskurs von Gerhard Schröder (Wahlkalkül). Doch einer verwirrt alle, ob Befürworter oder Gegner eines Irakkrieges: Tony Blair.

Ein konservativer Kolumnist gestand kürzlich: „Ich kann gegen meine Gefühle nicht mehr an, ich liebe Tony.“ Und selbst einige Linke, die den blairistischen Modernisierungsfuror in der Vergangenheit ebenso ablehnten wie nun seine Nibelungentreue gegenüber Washington, können eine klammheimliche Hochachtung vor dem britischen Premier nicht verleugnen. Hatten sie nicht gedacht, er habe keine Überzeugungen und orientiere sich hauptsächlich an Meinungsumfragen? Andere Labour-Politiker fragen hingegen irritiert: Warum tut der Kerl das? Warum riskiert der strahlende Sieger zweier Wahlen seine politische Karriere, nur um die britische Armee als Hilfstruppe in den Krieg gegen einen Dritt- Welt-Diktator zu schicken?

Anfangs haben ihn seine Gegner noch mit bitterem Spott das „Schoßhündchen“ von George W. Bush genannt. Doch das hat aufgehört spätestens nach dem Exklusivinterview, das der Premier jüngst dem Guardian gab. „Es ist noch schlimmer, als Sie denken“, entgegnete er darin jenen, die ihm Vasallentum vorwarfen, „ich glaube daran. Ich bin von der Richtigkeit meines Vorgehens überzeugt, unabhängig von der Position der Amerikaner.“ Und: „Ich habe gelernt, dass es darauf ankommt, das Richtige zu tun, nicht das Einfache.“ Und richtig ist, Saddam auszuschalten. So wie es richtig war, sich Hitler entgegenzustellen, und es falsch war, in den Dreißigerjahren auf die Appeasementpolitik zu setzen. Right or wrong, so einfach tickt Blair. „History will judge me right“ – die Geschichte wird mir Recht geben. Man mag das komisch, größenwahnsinnig oder auch sogar ein bisschen sympathisch finden: Der Mann glaubt, was er sagt. Ja, er sieht sich als Churchill, der sein murrendes Volk dazu bringen will, das Richtige zu tun, koste es, was es wolle.

Was hierzulande häufig übersehen wurde: Die Rückbindung auf simple, eingängige, stark moralisch gefärbte Dichotomien war von Beginn an das Betriebsgeheimnis der „Blair-Revolution“. Schließlich war es Blairs große Stärke, dass man ihm seinen Optimismus glaubte, ihm auch das Versprechen, er wolle sein Land zur „Modellnation des 21. Jahrhunderts“ machen, zum „Leuchtfeuer für die Welt“, als authentisch abnahm; dass er so offenkundig meinte, was er sagte, war immer der Schlüssel zum Blair’schen Charisma, das niemand leugnen kann, der ihm auch nur einmal für ein paar Minuten gegenübersaß.

Im Blairismus gab es, neben dem offen liegenden Pragmatismus, der Anpassung der Programmatik an die Realität, immer die zweite Seite, die nicht so klar sichtbar zutage lag: die ethische Motivierung. Auch die Absage an wohlfahrtsstaatlichen Etatismus und die Betonung, dass den Einzelnen, wenn sie Fürsorge des Staates in Anspruch nehmen, auch Pflichten obliegen, war weniger eine Verbeugung vor der neoliberalen Doktrin (wie viele kontinentale Linke irrtümlich glauben), sondern beruhte auf Anleihen am Kommunitarismus, dieser stark christlich gefärbten Gemeinschaftstheorie.

Dementsprechend war, noch bevor deutsche Ex-Linke ihren Menschenrechtsbellizismus ausformuliert hatten, von New Labour auch das Konzept einer „moralischen Außenpolitik“ entwickelt worden: So versprach man, keine Waffen mehr an Diktatoren zu verkaufen (was britische Regierungen zuvor gemacht hatten), sondern die Waffen gegebenenfalls zu benützen, um diese Diktatoren zu vertreiben. In der ersten Amtsperiode der Labour-Regierung prägte ausgerechnet jener Robin Cook als Außenminister diese neue Prämisse, der sich nun Blair entgegenstellte und als Fraktionschef zurücktrat, da er den Kriegskurs nicht mittragen wollte.

All dies entschlüsselt im Kern die irritierende Sicherheit, mit der Blair seine Linie beibehält. Natürlich gibt es noch andere Gründe; die berühmte „Special Relationship“ zu den USA, die sich nicht nur aus der kulturellen Nähe der beiden angelsächsischen Gesellschaften erklärt, sondern auch aus der imperialen Vergangenheit Großbritanniens – und dem daraus folgenden Instinkt für die Handlungslogik der neuen imperialen Macht. So gesehen war es durchaus nicht absurd, dass Blair bisweilen agierte wie ein zweiter Außenminister der USA. Nur so schien ihm gewiss, Einfluss auf Bush gewinnen zu können, vergleichbar dem von Colin Powell. Letztlich hat sich Blair damit verkalkuliert und beim Kriegsrat mit Bush und Aznar auf den Azoren den Eindruck eines „völlig panischen Glücksspielers“ gemacht, wie ein Korrespondent berichtete.

Tatsächlich ist heute fraglich, wie Blair die nächsten Wochen als Premier zu überstehen vermag (mit Schatzkanzler Gordon Brown hat er einen so genannten Männerfreund zur Seite, der ihn nur zu gerne beerben würde). Aber auch die „Special Relationship“ mit den USA steht auf einer ernsten Probe. Immer häufiger wird jetzt schon gefragt, zuletzt auch von dem einflussreichen Historiker Niall Ferguson in der Financial Times: „Was haben wir eigentlich davon?“ Dass es Blair und seinen Spin-Doctors nur äußerst mühsam gelingt, eine Mehrheit der Briten von ihrem Standpunkt zu überzeugen, deutet darauf hin, dass sich zunehmend ein Bewusstsein breit macht über die „kuriose Asymmetrie“ (Ferguson) des britisch-amerikanischen Verhältnisses. Auch die Briten entfremden sich ihrem Partner USA.

Right or wrong, so einfach tickt Blair. „History will judge me right“ – die Geschichte wird mir Recht geben

Der Blairismus könnte dadurch nachhaltig ausgehöhlt werden. Denn ein wesentliches seiner Elemente ist die ausgesprochen atlantische Orientierung. Als Bill Clinton im Weißen Haus regierte, ließ sich das sogar mit einem neuen „Progressismus“ verbinden. Schon der Wechsel von Clinton zu Bush hat dem eigentlich den Boden entzogen – wie sehr, merkte Blair wohl jetzt erst. Durch das Votum des Unterhauses in der letzten Woche hat Blair jetzt zumindest eine Atempause. Die große Revolte ist ausgeblieben. Aus dem Schneider ist er dadurch nicht. Jetzt muss er darauf hoffen, dass die Geschichte seine großen Reden von der „ungeheuerlichen Gefahr“, die Saddams Regime darstellt, Lügen straft. Denn nur wenn diese angeblich waffenstarrende Despotie schnell kollabiert, kann Blair diese Krise unbeschädigt überstehen.

So ist die vorläufige Bilanz eine durchaus paradoxe: Blair hat bewiesen, dass er ein Staatsmann mit Rückgrat ist, „der großartigste Politiker des Landes“ (so der den Krieg ablehnende Independent kürzlich in einem Leitartikel); aber er hat diese Größe auf eine Weise eingesetzt, die dazu führen könnte, dass von ihm nichts bleibt als die Erinnerung an einen Politiker, der sein Prestige mit einer mutigen, aber falschen Entscheidung verspielte. ROBERT MISIK