Komplizen des Krachs

Die Geburt des Theaters aus dem Geist des Kindergeburtstages: Im Theater an der Parkaue funktioniert das famos. Zum Beispiel in Milan Peschels Inszenierung „Das doppelte Lottchen“

VON ANNE PETER

Die Salven des imaginären Maschinengewehrs, mit dem die Schauspieler auf der Bühne herumfuchteln, knallen laut aus dem Off. Von dort hört man auch eine detonierende Bombe grollen, während sich in der Comic-Animation auf der Leinwand die Rinderherde in rote Reste auflöst. „Geil, Alter!“, kommentiert der Zehnjährige in Reihe 6, sein Nachbar lacht. Eine Lehrerin neigt sich empört zu ihrer Kollegin rüber: „Was soll das ständige Geballere?“

Nein, pädagogisch wertvoll ist das nicht. Aber es macht Spaß. Den Kids jedenfalls. Action, Verfolgungsjagden – der Dramaturg nimmt im Publikumsgespräch selbstverständlich an, dass so was für Kinder zu einer guten Geschichte eben dazugehört. Sie besuchen mit ihrer Klasse „Die grüne Wolke“ nach A.S. Neill im Theater an der Parkaue. Darin macht ein Lehrer seine Schüler zu den Helden einer Geschichte um die letzten Menschen. Inszeniert hat das multimedial arbeitende Künstler-Duo norton.commander.productions – nur ein Beispiel für die zahlreichen renommierten Theatermacher, die Intendant Kay Wuschek ans Haus holen konnte, seit er vor drei Jahren die Leitung des einzigen Staatstheaters Deutschlands für Kinder und Jugendliche übernahm.

Hans-Werner Kroesinger, Milan Peschel, Nora Somaini oder Showcase Beat Le Mot mit ihrem preisgekrönten „Räuber Hotzenplotz“ – was macht das Kinder- und Jugendtheater für diese Künstler, die sonst in ganz anderen Kontexten unterwegs sind, so attraktiv? Wuschek verweist auf das „innerbetriebliche Klima“. Die Parkaue funktioniert außerdem in besonderer Weise als Spielwiese, an Experimentierfreude steht sie den großen Häusern der Hauptstadt in nichts nach, zumal der mediale Erwartungsdruck hier weniger groß ist. Stattdessen hat man als Gradmesser ein äußerst reaktionsfreudiges Publikum, dem man schnell anmerkt, ob etwas funktioniert oder nicht.

Wuscheks Vertrag wurde gerade bis 2015 verlängert. Vieles von dem, was er sich vorgenommen hatte, wurde erreicht. Das 1948 gegründete, in Lichtenberg gelegene Haus besuchen mittlerweile Schulklassen aus Ost- und Westberlin, genauso wie aus dem Umland. Auch eine kontinuierliche Wochenend-Bespielung konnte durchgesetzt werden. Die theaterpädagogische Offensive – u. a. Unterrichtsmaterial sowie Werkstätten und Diskussionen für Schüler und Lehrer – wurde jetzt noch ausgeweitet: Kunstprojektwochen in allen Schulferien. Mehr Vermittlungsbemühung geht eigentlich nicht.

Das heißt nicht, dass Theater hier als moralische Bildungsanstalt gedacht würde. Klare Botschaften sucht man vergebens, ebenso wie eine einheitliche Ästhetik. Stattdessen ist die Vielfalt der Theatersprachen Programm und Postdramatik willkommen: vom Dokumentar- bis zum Einfühltheater, vom Mitmach- bis zum Multimediatheater.

Dass die Wirklichkeit alles andere als rosig ist, soll dabei nicht ausgeblendet werden – bloß keine Kinderzimmer-Behütetheit! In den Interessenfokus rückt, was Jung-Sein schwierig, aber auch so besonders macht: Pubertätswirren, Familienstress, Geldsorgen, Rebellionsbedürfnis. Auf produktive Weise werden die Paradoxien der (eigenen) Realität erfahrbar.

So etwa in der Rocksong-getränkten Inszenierung „Leonce und Lena“ von Oberspielleiter Sascha Bunge, die den Prinzen als sehr heutig gelangweiltes Wohlstands-Kid vorstellt, das lautstark „Wer arbeitet, ist ein Schuft!“ skandiert: Das ist ein durchaus widersprüchlicher Kommentar auf unsere sich über Arbeit definierende Gesellschaft. Oder Laios Talamontis radikal zur Identifikation einladendes Teenie-Stück „Alkohol!“, bei dem die Zuschauer erst als tanzende Statisten bei einem fiktiven Filmdreh eingesetzt werden und dann zusehen, wie vor der Kamera realitätsnahes Absackertum inszeniert wird.

Für Wuschek kommt es darauf an, dass von alldem „lustvoll“ erzählt wird, mit einem „bejahenden Verhältnis“ auch zum Schmerzhaften. Es gehe darum, sich nicht vor der Realität zu drücken, sondern sich ihr zu stellen. In Milan Peschels „Doppeltem Lottchen“ zum Beispiel ergreifen zwei Scheidungskinder beherzt die Initiative zur Familien-Wiederzusammenführung. Anders als bei Kästner bleibt die Beziehungsbaustelle am Ende unaufgelöst, alle beziehungskaputten Erwachsenen fahren in verschiedenen Abschnitten der Drehbühne isoliert im Kreise herum.

Ein offener, doch kein hoffnungsloser Schluss. Nimmt Volksbühnen-Schauspieler Peschel doch die Bühnen-Kinder als handlungsmächtig gewitzte Subjekte ernst und demaskiert aus Kinderperspektive den Narzissmus der Erwachsenenwelt.

Außerdem zeigt Peschel, wie schon bei seinem hinreißenden „Der Fischer und seine Frau“, dass viele von der Castorf-Truppe erprobten Spielweisen, die er hier in ihrer ganzen anarchischen Kindergeburtstagshaftigkeit abfeiert, bei Zuschauern unter zehn besonders gut funktionieren. Da wird nach Herzenslust geschrien, gestolpert, gerauft, gerüpelt, gegarstet, geschnoddert und gerockt.

Das Ferienheim, in dem sich die Zwillinge Lotte und Luise zum ersten Mal begegnen, bevölkern rotzfreche Gören. Waschbecken-aus-der-Wand-Reißen, Suppenteller-Zerdeppern und Umbauten auf offener Bühne, exzessive Hineinsteigerungsszenen und Verfremdungseffekte en masse, die für das junge Publikum offenbar (noch) kein Imaginationshindernis darstellen. Theater, das ist hier mehr Rockkonzert, Entladungs- und Ausagierraum als bildungsbürgerlicher Guckkasten. Ein Ort, an dem man Lust probt, die Lust an der Überforderung.