Aus dem Schatten getreten

Jeder kennt ihre Musik, niemand ihre Namen: Dabei sind die Funk Brothers die erfolgreichste Hitmaschine der Popgeschichte. Am Sonntag spielte die ehemalige Motown-Studioband im Tempodrom in Berlin – ein triumphaler Akt später Gerechtigkeit

VON TOBIAS RAPP

Was für coole alte Säcke. Da stehen sie auf der Bühne: Sechs Herren um die Siebzig holen sich die Ovationen ab, die ihnen gebühren, umarmen sich, reißen die Arme hoch, legen ein paar Tanzschritte hin, die aufblitzen lassen, was für coole junge Säcke sie einmal waren, und rufen ins Publikum: „Want some more?“

Und ob man will. Es sind schließlich die Funk Brothers, die Mitglieder der legendär Motown-Studioband, die bis heute erfolgreichste Hitmaschine in der Geschichte der Popmusik. Sie haben mehr Nummer-eins-Hits eingespielt als die Beatles, die Beach Boys, Elvis und die Rolling Stones zusammen. Sie sind nun auf einer letzten großen Abschiedstournee unterwegs. Der ersten allerdings, bei der sie selbst im Mittelpunkt stehen.

Es sind noch sechs von ursprünglich einmal dreizehn Musikern dabei. Und weil jeder ihre Musik kennt, aber niemand ihre Namen, sei es gestattet, sie hier zu nennen: Der Keyboarder Joe Hunter, die Gitarristen Eddie Willis und Joe Messina, der Bassist Bob Babbitt, der Schlagzeuger Uriel Jones und Jack Ashford am Tamburin. Wenn sie spielen, geht einem das Herz auf.

Es war ein Film, der sie dem Vergessen entriss. „Standing In The Shadows Of Motown“ (der Titel ist eine Variation auf den Four-Tops-Klassiker „Standing In The Shadows of Love“), im vergangenen Jahr erschienen, erzählte die Geschichte von den Detroiter Jazzmusikern, die von einem jungen, ehrgeizigen Labelgründer namens Berry Gordy als Mitglieder der Hausband seiner neu gegründeten Plattenfirma engagiert wurden. Jahrelang schütteln sie im Dunkel des legendären Motown-Studios Hits aus dem Ärmel, müssen sich mit Gordys zweifelhaften Geschäftspraktiken herumschlagen und gehen als Konzertbegleitung mit den Acts der aufstrebenden Firma auf Tour.

Tatsächlich ist die Show im zu zwei Dritteln gefüllten Tempodrom auch an die Motown-Revues der frühen Sechziger angelehnt, als sie mit Mary Wells, Marvin Gaye oder den Temptations durch die USA zogen und Abend für Abend ihre Hits runterspielten. Nun aber unter umgekehrten Vorzeichen: Damals drehte sich alle Aufmerksamkeit um die Sängerinnen und Sänger, jetzt geht es um die Musiker. Die sitzen in ihren blauen Jacketts auf der Bühne und schnurren sich mit der Präzision eines Uhrwerks durch ihre Stücke. Es ist ein denkwürdiger Auftritt.

Das hat nicht mehr den Uptempo-Druck der frühen Jahre, man lässt es jetzt ein bisschen gemächlicher angehen. Jack Ashford (von ihm stammt etwa das „Tschicki! Tschicki! Tschiki!“ in „Where Did Our Love Go“) führt durch den Abend und erzählt zwischendurch kleine Geschichten – etwa die vom Motown-Chef Berry Gordy, der es immer darauf angelegt habe, seine Chicks zu Stars zu machen. Dabei hätten sie damals auch ein gackerndes Chicken in die Charts bringen können, wenn man sie denn gelassen hätte. Danach bittet er ein Dutzend Chicks aus dem Publikum auf die Bühne, um mit ihnen zu „My Girl“ zu tanzen. Auch vierzig Jahre später ist da noch die gepflegte Herablassung des alten Jazzers spürbar, für den all die Klassiker, die man da einspielte, in einer bestimmten Art nur Broterwerb waren. Die eigentliche Musik spielte man nach dem Ende der Sessions zusammen in einem der zahllosen Detroiter Jazzclubs.

Verschiedene Sänger geben sich das Mikrofon in die Hand, unter ihnen auch der Hamburger Stefan Gwildis, der im vergangenen Sommer eine Platte mit deutschen Coverversionen alter Soulstücke aufgenommen hat. Für den Temptations-Klassiker „Papa Was A Rolling Stone“ übersetzte er den Schwerenöter, der im Original seine Familie verlässt, in einen Stasi-Hausmeister, der sich nach dem Mauerfall aus dem Staub macht. Das Publikum findet daran allerdings wenig Gefallen. Humor war noch nie eine Stärke, wenn sich in Deutschland mit schwarzer Musik beschäftigt wurde. Da geht es um Heldenverehrung. Und die funktioniert am besten, wenn die Helden als Objekte auf hohen Podesten stehen.

Wenn es irgendwer verdient hat, auf ein Podest gestellt zu werden, dann allerdings die Funk Brothers. Dreizehn Jahre lang spielten sie Tag für Tag einen Klassiker nach dem anderen ein und blieben doch immer im Dunkel und wurden schnell vergessen. Der berühmteste von ihnen, James Jamerson – er gilt heute als einer der bedeutensten Bassisten überhaupt –, musste sich in den frühen Achtzigern gar eine Eintrittskarte kaufen, um die Feier zum 25. Geburtstag von Motown betreten zu können. Drei Monate später war er tot.

Der Mann, der den Funk Brothers ihr Podest erbaut hat, sitzt mit auf der Bühne. Der Gitarrist Allen Slutsky hat nicht nur „Standing In The Shadows Of Motown“ gedreht, er ist auch der künstlerische Leiter der Band. Vierzehn Musiker sind es insgesamt, für die verstorbenen Funk Brothers sind Musiker von Philadephia International eingesprungen, der anderen großen Soul-Hit-Maschine, die Motown in den Siebzigern beerbte. Und so sitzen sie da und spielen. „Reach Out I’ll Be There“, „What Becomes Of The Broken Hearted“, „Stop In The Name Of Love“, „For Once In My Life“, „I Was Made To Love Her“, „Heard It Through The Grapevine“, „Needle In The Haystack“. Man lauscht und freut sich, man tanzt und lässt das Glück die Wirbelsäule herunterrieseln. Ein Glück, das durchwirkt ist von dem Gefühl, an einer späten Gerechtigkeit teilzuhaben.

Über zwei Stunden geht der Zauber, und musicologically correct wird er mit Marvin Gayes „What’s going on?“ beendet. Ein Stück, das den Höhepunkt der Karriere der Funk Brothers markierte, denn zum ersten Mal traten sie aus der Namenlosigkeit hervor und wurden auf einem Plattencover erwähnt. Es markierte aber auch ihr Ende. Wenige Monate nach Erscheinen der Platte zog Motown von Detroit nach Los Angeles um, und eines Tages standen die Funk Brothers buchstäblich vor verschlossenen Türen. Niemand hatte es für nötig befunden, sie zu informieren.