Sorge um die Souveränität

Wie die israelische Gesellschaft die Entwicklung in Europa wahrnimmt

BERLIN taz ■ „Neuer Antisemitismus“ in Europa? Bei solchen Nachrichten schrillen in Israel die Alarmglocken. Der frühere Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, illustrierte das auf der Antisemitismus-Konferenz der Böll-Stiftung folgendermaßen: „Können wir unsere Tochter noch nach Europa schicken?“, fragten ihn Bekannte, erschrocken über Nachrichten von wachsender Judenfeindlichkeit in der EU. Die junge Frau könne natürlich dort studieren, antwortete Primor den verängstigten Eltern. Doch deren Angst war stärker, die Tochter blieb zu Hause.

Die Israelis, so betonten die Experten auf dem israelischen Podium übereinstimmend, interessierten sich fast gar nicht für das, was außerhalb Israels passiere. Einig aber seien sich ihre Landsleute darin, dass der Antisemitismus in Europa zugenommen habe. Die Lage werde als so schlimm wie in den Dreißigerjahren wahrgenommen, so Primor. Er dagegen sehe im Gegenteil einen „schüchternen“ Rückgang der Judenfeindlichkeit, wenn auch „mit großen Schwierigkeiten“. Der Vorwurf des zunehmenden Antisemitismus in Europa werde allerdings von der Regierung Scharon genutzt, um europäische Kritik an ihrer Politik ohne Prüfung ihrer Berechtigung abzuschmettern: „Es ist bequemer, zu sagen, das sind alles Antisemiten“, konstatierte Primor.

Überhaupt wird der europäische Antisemitismus vor allem vor dem Hintergrund der innenpolitischen Kämpfe des Nahoststaates diskutiert, erklärte auch der israelische Politiker Roman Bronfman, der der Meretz-Partei nahe steht. Während die israelische Rechte betone, das Antisemitismusproblem Europas liege an den dortigen Linken und den Muslimen, sei es für die Linke Israels eher eine rechte und religiöse Erscheinung auf dem Alten Kontinent. Dabei, so Bronfman mit Lust an der Provokation, gebe es in seinem eigenen Land einen „staatlichen Antisemitismus“, und zwar gegen die Araber in Israel. Die seien schließlich immer noch Bürger zweiter Klasse.

Der Soziologe und Publizist Natan Sznaider (Tel Aviv) betonte, der „politische Antisemitismus“ in Europa habe nichts mit Scharon und seiner Regierung zu tun, weshalb er auch nicht verschwinden werde, wenn es einen anderen Ministerpräsidenten geben sollte. Ein „neuer Antisemitismus“ in Europa äußert sich nach seiner Ansicht vor allem in einer „ansteigenden Delegitimierung der Souveränität Israels“: Wie in der arabischen Welt nehme auch in Europa die Zahl der Menschen zu, die dem jüdischen Staat an sich eine Existenzberechtigung absprächen. Das sagte er am Donnerstag, als ein Antisemit in Israel sich und zehn Israelis in die Luft jagte.

PHILIPP GESSLER