Begehren und Aufbegehren

Die Kraft der sexuellen Subversion: In „Before Night Falls“ erzählt Julian Schnabel das tragische Leben des kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas. Aus der Kopplung von Biografie und Fantasie ergibt sich das Profil eines Künstlers, bei dem sich private Ausschweifung mit politischer Opposition mischte

VON HARALD FRICKE

Das Leben von Künstlern ist erstaunlich oft Gegenstand von Spielfilmen. Jackson Pollock, Pablo Picasso, Virginia Woolf in „The Others“. Offenbar liegt einiger Reiz in der Darstellung legendärer Typen, weil sich bei ihnen die Vielschichtigkeit von Lebenszusammenhängen meistens aufs Werk konzentriert, wenn nicht gar in ihm spiegelt. Die künstlerische Produktion bedeutet alles, der Rest ist lediglich gelebte Beigabe. Dass dieser Mythos im Kino mit großer Passioniertheit zelebriert wird, gilt erst recht, wenn Künstler Filme drehen – also auch für „Before Night Falls“, Julian Schnabels Hommage auf den kubanischen Schriftsteller Reinaldo Arenas, der sich 1990 im New Yorker Exil wegen seiner fortschreitenden Aids-Erkrankung umbrachte.

Als Künstler war Schnabel in den Achtzigerjahren selbst mal Legende. Seine Malerei wurde als Stil-Patchwork gefeiert, momentan ist sie in einer Ausstellung der Frankfurter Schirn-Kunsthalle wieder zu sehen. Mittlerweile hat der Maler sein Interesse aber eher auf Spielfilme verlagert. 1996 erschien sein Debüt „Basquiat“ über den jung verstorbenen New Yorker Graffiti-Artisten Jean-Michel Basquiat. Wie wichtig für Schnabel dabei die eigene Biografie war, erkennt man an der Besetzungsliste: Sein Alter Ego wurde von Gary Oldman gespielt, der in der Rolle des Basquiat-Künstlerfreundes gerne gut isst und ansonsten unter der Geldgier der Galeristin Mary Boone leidet.

Die Nähe zum künstlerischen Milieu hat Schnabel mit „Before Night Falls“ beibehalten. Aber die Konflikte haben sich dem politischen Gegenstand gemäß verschärft: hier das intellektuelle und physische Aufbegehren des Einzelnen, dort die Zumutungen eines repressiven Systems. „Before Night Falls“ zeichnet das Leben des kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas nach, der sich mit dem Sturz des Batista-Regimes von der Revolution mehr Freiheit erhofft und schließlich unter der Diktatur Fidel Castros als unbequemer, zumal homosexueller Künstler ins Gefängnis gesteckt wird.

Wie traumatisch diese Erfahrung für Arenas war, kann man nicht nur in seinen Romanen, Erzählungen und der Autobiografie „Before Night Falls“ lesen, auf der Schnabels Film aufbaut. Auch nachdem er 1980 in die USA auswandern durfte, hat der Schriftsteller bis zu seinem Tod in Petitionen und Manifesten vehement Castros Absetzung gefordert. All sein Schreiben war seit den Siebzigerjahren praktisch auf dieses Ziel gerichtet: Mit dem Ende der kommunistischen Machthaber würde die Unterdrückung von Homosexualität in seiner Heimat aufhören. Dafür benutzte Arenas nicht bloß seine Texte als Waffe gegen den Staat: Er war auch körperlich subversiv tätig. Beiläufig erfährt man in einer Episode aus „Before Night Falls“, dass er auf Kuba mit über 5.000 Männern Sex hatte, viele davon sollen Soldaten gewesen sein. So gleiten konkrete Lebensumstände und ihre fiktionale Zuspitzung ineinander, das macht Arenas’ Stellenwert als politischer Schriftsteller aus.

Im Film spart Schnabel solcherlei Exzesse aus. Bei ihm landet Arenas zwar im Gefängnis, weil er zu Unrecht angeklagt wird, einen Jungen belästigt zu haben. Doch das Verhältnis zwischen privaten Ausschweifungen und unmittelbar gelebter, kultureller Opposition bleibt im Film überraschend unscharf. Manchmal ist Javier Bardem als Arenas von schönen Männern umstellt, die in knappen Badehosen am Strand albern, während er in Gedanken an seinen Büchern feilt. Dennoch überlappen sich private und öffentliche Sphäre kaum: Selbst das Liebesnest, das ihm ein wohlhabender Geliebter einrichtet, wird für Arenas vor allem zum Ort der literarischen Produktion. Ein Tisch, eine Schreibmaschine, das Klicken der Tastatur. Er liest Kafka und Dostojewski, ab und zu hat er Affären. Aber was seine Texte zum Ärgernis für Castro macht, erklärt der Film nicht. Nur der Druck nimmt beständig zu, bis das berüchtigte Straflager El Morro zur grellen Inquisitionshölle wird, in der ein Offizier Arenas zwingt, den Lauf seiner Pistole zu lutschen.

Trotzdem kommt der Film in den trostlosesten Augenblicken der Wut des Originals am nächsten. Indem Johnny Depp zugleich den sadistischen Militär wie den ebenfalls auf El Morro eingesperrten Transvestiten Bon Bon spielt, geraten autoritäre Züchtigung und sexuelle Libertinage durcheinander. Sie werden damit zumindest in der filmischen Überzeichnung zu einer Bedrohung für den Machtapparat, wie sie sich Arenas immer gewünscht hätte. Entsprechend sind es bei Schnabel gerade die losen Koppelungen aus biografisch verbürgten Ereignissen und fiebrig driftenden Fantasien, durch die Arenas als Künstler an Profil gewinnt. Die Sexualität verbindet ihn nicht bloß mit den ihn umgebenden Menschen, sie ist das physische Pendant seiner Sprachfindung als Schriftsteller.

Andererseits zeigt „Before Night Falls“ genau nicht die Bilder, die zu den damals zur Publikation nach Frankreich oder Spanien geschmuggelten Büchern passen würden. Deshalb gibt es weder Orgien noch „das gefräßige Feuer“, mit dem Arenas vermutlich Nacht für Nacht auf Männersuche war. Vielmehr dreht Schnabel die Perspektive um und filmt, was Arenas sah, wenn ihn etwas als Thema seiner Literatur begeisterte: ein Kaleidoskop des kubanischen Alltags, in dem sich die Farben von tropischen Wäldern, das städtische Chaos in Havanna und überall verführerisch aufblitzende Körper überlagern. Schnabels Film ist das Auge, durch das Arenas eine Realität wahrnimmt, die ihm der Staat nicht nehmen kann – mit seinem Körper will er ganz und gar Kuba sein, kein System soll diese gefühlte Identität aus Subjekt, Land und Geschichte entzweien: Das ist der Motor seiner literarischen Produktion.

Dass Schnabel bei so viel Patriotismus, an dem Arenas bis zu seinem Tod festgehalten hat, nicht in Heimatkitsch abdriftet, ist ihm hoch anzurechnen. Der mythischen Verklärung des Künstlerdaseins entgeht er damit nicht. Schon zu Beginn hört man eine Stimme aus dem Off von der „totalen Pracht der totalen Freiheit durch totale Armut“ sprechen, während die Kamera sich unter weit in den Himmel ragenden Baumwipfeln dreht. Da ist Arenas noch ein Kind, das mit seiner Mutter auf dem kärglichen Bauernhof des Großvaters lebt. Selbst das Schreiben erscheint bei Schnabel in seinem Ursprung als magische Natur: Die ersten Verse ritzt der Junge in die Rinde der Bäume, die sich eben noch gedreht hatten.

Als später die Revolution regiert, wird Castro im O-Ton mit den Worten zitiert: „Die Pflicht beginnt, wo die Freundschaft aufhört.“ Die Pflicht, für sein Land zu kämpfen, hat auch Arenas bis zum Ende angetrieben. Noch in seinem Abschiedsbrief gab er Castro die Schuld an seinem Selbstmord (während er im Film zur Steigerung der Tragödie von seinem Geliebten erdrosselt wird). Denn die Krankheit, die er sich, so heißt es in seinen letzten Worten, „im Exil“ zugezogen hat, „wäre vermutlich nie gekommen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, Freiheit in meinem Land genießen zu können“.

Daran scheint auch Schnabel nicht zu zweifeln. Er hat den Brief auf seine Homepage zu „Before Night Falls“ gestellt.