Die mentale Hauptstadt der DDR

Endlich, der große Deutschlandroman: Christoph Hein hat mit „Landnahme“ das Buch geschrieben, auf das in der Wendezeit so heftig gewartet wurde. Seine Geschichte des fiktiven Orts Guldenberg zeichnet ein Sittenbild des exemplarischen Sachsen

VON JÖRG MAGENAU

Das sächsische Flüsschen Mulde wurde vor einiger Zeit berühmt, als es plötzlich über die Ufer trat. Fernsehteams reisten an, um die Anwohner zu filmen, die jammernd erklärten, alles verloren zu haben. Kaum abgetrocknet, geriet die Region wieder in Vergessenheit. Damals könnte auch die Kleinstadt Guldenberg überschwemmt worden sein. Der fiktive Ort mit Burg, Marktplatz, Rathaus, Sportplatz und Muldebrücke steht im Mittelpunkt von Christoph Heins Roman „Landnahme“. Guldenberg ist das exemplarische Sachsen. Hier, in der unrettbaren, glücklichen Abgeschiedenheit der Provinz gedeihen Kleinunternehmertum und Landwirtschaft, wenn sie denn dürfen und die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Natur es zulassen. Leicht war es nicht in den vergangenen fünfzig Jahren.

Guldenberg ist die Hauptstadt der DDR. Nicht politisch, aber mental. Die geschilderten Ereignisse reichen von den Anfängen der DDR über ihren Untergang bis in die Zeit der wilden Geschäftemacherei im neuen Deutschland. „Landnahme“ ist genau das Buch, auf das in der Wendezeit so heftig gewartet wurde. Endlich: der große Deutschlandroman. Anfang der Neunzigerjahre hätte man den gelassenen, lakonischen Tonfall, den Hein anschlägt, allerdings kaum geduldet. Die titelgebende Landnahme bezieht sich nicht nur auf die Kollektivierung der Landwirtschaft in den frühen Fünfzigern, sondern ebenso auf die unter kapitalistischen Vorzeichen wieder in Besitz genommenen Eigentumstitel, die Wenige reich und Viele arbeitslos gemacht haben.

Dass auch der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte sein kann und selbst in die Dynamik des historischen Prozesses hineingerissen wird, ist eine Einsicht, die in den Turbulenzen des Sozialismusverschwindens vorübergehend in Vergessenheit geriet. Erst jetzt, bald fünfzehn Jahre danach, kann ein gelassenes Buch entstehen und gelassen gelesen werden, in dem das damals aufgerichtete Wahrnehmungskoordinatensystem einfach ignoriert wird. Bei Hein geht es nicht mehr darum, die Vergangenheit im Raster von Ostalgie versus DDR-Verteufelung zu verorten oder Opfer und Täter feinsäuberlich zu sortieren. Er zeigt vielmehr, wie die Menschen sich mit den Verhältnissen zu arrangieren versuchten und zu welchen sozialen und psychischen Deformationen das führte: vor und nach der Wende. Alles Pro-und-Contra-Hafte ist überwunden. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Vielleicht fängt Literatur da überhaupt erst an.

Im Zentrum der Beobachtung steht Bernhard Haber, der im Jahr 1950 als Heimatvertriebener aus Schlesien mit seiner Familie in Guldenberg strandet. In der Schule wird ihm schnell klar gemacht, dass er, der „Polacke“, hier nichts zu suchen habe. Weil er sich um Freundschaften nicht schert und ziemlich maulfaul ist, bleibt sein Hund für ihn der einzige Vertraute, bis er ihn eines Tages tot findet: erwürgt mit einer Drahtschlinge. Seinem Vater, einem Tischler, der in russischer Gefangenschaft einen Arm verloren hat, zünden Guldenberger die Werkstatt an. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere. Überall herrscht lauernde Fremdenfeindlichkeit. Hein kann in der Schilderung der dumpfen, argwöhnischen Atmosphäre auf eigene Erfahrungen zurückgreifen: Auch er wurde in Schlesien geboren und verbrachte die Kindheit in den Fünfzigerjahren im sächsischen Bad Düben an der Mulde, das nun für Guldenberg Modell steht.

Vertreibung und der Umgang mit den Vertriebenen war in der DDR – ähnlich wie im Westen –ein streng tabuisiertes Thema, rührte es doch an die Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung. Erst nach 1989 hat sich das Tabu allmählich gelockert. Seit einiger Zeit darf das Schicksal der Vertriebenen auch in Fernsehdokumentationen beweint werden. Zahlreiche Autoren – von Günter Grass über Reinhard Jirgl bis zu Tanja Dückers – haben sich des Themas literarisch angenommen. Insofern liegt Heins Roman im Trend. Die Feindseligkeit der Gesellschaft gegenüber den Neuankömmlingen aus dem Osten ist allerdings weder in den Büchern – noch in den Fernsehserien, in denen endlich einmal der Opferstatus der Deutschen genossen werden durfte, in den Fokus geraten.

Bernhard Haber lernt, sich wegzuducken und niemandem zu trauen als sich selbst. Das Aggressionspotenzial, das er in sich ansammelt, gibt ihm schließlich die Schubkraft für seine Erfolgsgeschichte. Die erlittenen Demütigungen machen ihn hart und rachsüchtig und vielleicht nur deshalb so hartnäckig, weil er es allen zeigen will. Nach der Tischlerlehre verdient er viel Geld, als er in ein „Fuhrunternehmen“ einsteigt, das Republikflüchtlinge nach Berlin bringt. Ironie der Geschichte: Er, der als Flüchtlingsjunge in die DDR kam und beharrlich versucht, als Einheimischer anerkannt zu werden, verhilft anderen zur Flucht und etabliert sich mit diesem Geschäft in der sozialistischen Gesellschaft. Den Gewinn münzt er in Maschinen für eine konkurrenzlose Tischlerwerkstatt um. Es gelingt ihm später sogar, trotz der Teilsozialisierung des Betriebes sein eigener Herr zu bleiben.

Haber erzählt seine Geschichte nicht selbst. Es entspräche auch kaum seinem Naturell, viele Worte zu machen. Hein lässt nacheinander fünf verschiedene Ich-Erzähler auftreten, deren Lebensgeschichte an irgendeinem Punkt mit Bernhard Haber in Berührung kam. Da meldet sich zunächst ein älterer Herr zu Wort, der in der Schule zwei Jahre neben ihm saß, ohne jemals mehr als das Nötigste mit ihm gesprochen zu haben. Seine erste Freundin erinnert sich mit gemischten Gefühlen zurück an ihn, der sich nie für Politik interessierte, aber eines Tages plötzlich zu den Agitatorentrupps gehörte, die Bauern in die Genossenschaft pressten. Ganz nebenbei erfährt man etwas vom Verlauf der Propagandaschlachten um die Sozialisierung der Landwirtschaft, vom Kampf der Bauern um ihr Eigentum, von ihrer bleibenden Wut auf die LPGs – auch wenn sie später eingestehen müssen, dass ihre Lebensbedingungen sich verbesserten, sie haben geregelte Arbeitszeiten und Urlaub. Aber was hilft das, wenn der Hof verloren ging?

Jeder der fünf Ich-Erzähler ist ein eigenständiger Charakter mit eigener Geschichte. An der Souveränität, mit der Hein seine Figuren zu Wort kommen lässt, wie er Dialoge von enormer Dichte und Echtheit schreibt, erkennt man den geübten Dramatiker. Auch der Übergang von männlichen zu weiblichen Stimmen bereitet ihm keinerlei Probleme. Jede der im Überfluss vorhandenen Geschichten könnte auch für sich stehen und hat doch ihren genau bestimmten Platz im Romangefüge. Die Erlebnisse des etwas tumben Peter Koller etwa wären für andere Autoren schon Stoff genug für ein ganzes Buch. Als Kollers Freundin ein dunkelhäutiges Baby bekommt, glaubt er wochenlang ihren Erklärungen, es handle sich um eine seltene Pigmentverschiebung, und macht sich damit zum Gespött der Stadt. Er rettet sich in Habers Fluchthilfeunternehmen, wird erwischt und wandert für fünf Jahre ins Gefängnis. Ein ganz anderer Typ ist die muntere, erotisch vagabundierende Katharina Hollenbach. Sie wird die Schwägerin Bernhard Habers und erzählt, wie sie den Freund ihrer reichlich prüden Schwester einst verführte und ihm zu ersten sexuellen Erlebnissen verhalf.

Der örtliche Sägewerkbesitzer ist es schließlich, der sich im Kegelclub der Selbstständigen mit Haber anfreundet und gemeinsam mit ihm ins Nachwendeunternehmertum durchstartet. Aus dem Kegelclub wird eine inoffizielle Industrie- und Handelskammer. Dieser Freundeskreis, der schon im Sozialismus auf unaufdringliche Weise seinen Einfluss geltend zu machen verstand, regiert nun die Geschäfte und stellt auch den Bürgermeister aus seinen Reihen. Das programmatische Desinteresse am Politischen, das zuvor nützlich war, um nicht aufzufallen, verwandelt sich in ungebremste ökonomische Dynamik. Bernhard Habers in früher Kindheit erlernte Moral, dass jeder sich selbst der Nächste sei, darf sich endlich frei entfalten. Da ist es nur konsequent, dass sein Sohn nun zu denen gehört, die „Fidschis“ aus dem Karnevalszug herauszerren, weil sie Karneval für eine rein deutsche Angelegenheit halten. Der Vater nickt dazu milde und voller Stolz auf den strammen Jungen. Fremdenfeindlichkeit ist Revierverhalten: Wer dazugehört, verteidigt die Region gegen Eindringlinge. Dass der Vater selbst einmal zu den Vertriebenen gehörte, ist vergessen.

„Landnahme“ ist ein realistischer Roman, der weniger durch sprachliche Brillanz überzeugt als durch die Intelligenz der Konstruktion und das Interesse für Alltag und praktisches Leben. DDR-Literatur ohne Zensur und ohne ideologische Scheuklappen hätte vielleicht so aussehen können. Da ist es nur folgerichtig, dass es Christoph Hein war, der auf dem letzten großen Kongress des DDR-Schriftstellerverbandes 1988 die Abschaffung der Zensur forderte. Nicht zu Unrecht gilt er als Chronist ostdeutscher Zustände und Befindlichkeiten. In seinem Jugendroman „Von allem Anfang an“ (1997) hat er sich den Fünfzigerjahren schon einmal, damals allerdings autobiografisch, genähert. Unter den Autoren der Gegenwart kommt ihm wohl Ingo Schulze mit seinen „Simple Storys“ am nächsten. Schulze versucht auf ähnliche Weise, Geschichte im Alltäglichen und im Episodischen abzubilden. Nicht ganz zufällig spielt die Stadt Altenburg, in der die „Simple Storys“ angesiedelt sind, auch in „Landnahme“ eine Rolle. Doch weil Hein einen großen Zeitraum überblickt, schafft er es, hinter dem Alltag und dem Erleben der unterschiedlichsten Menschen eine Tiefendimension sichtbar zu machen: die Geschichte selbst.

Christoph Hein: „Landnahme“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 360 Seiten, 19,90 €