„Ich mag, wenn Musik einen Nutzen hat“

Bekannt wurde er mit seinen Zusammenarbeiten mit Regisseur Peter Greenaway. Jetzt ist der englische Komponist Michael Nyman zu Gast beim 22. Internationalen Filmfest, das bis zum 9. November in Braunschweig abgehalten wird. Vorab sprach der Oscar-Preisträger mit der taz nord

Das Internationale Filmfest Braunschweig ist ein Publikumsfestival und bietet den erwarteten 22.000 Besuchern rund 170 Veranstaltungen. Dazu gehören neben den Kurz- und Langfilmen zwei Filmkonzerte, ein Workshop, Vorträge und eine Fotoausstellung. Das Filmfest beschäftigt sich alljährlich mit der engen Beziehung zwischen Musik und Film. Der Schwerpunkt des Filmprogramms liegt auf aktuellen europäischen Produktionen, zu sehen auf insgesamt fünf Leinwänden. Es gibt diverse Preise, darunter den European Actors Award, den diesmal der Schauspieler Bruno Ganz erhält. Das Filmfest dauert noch bis zum 9. November.  TAZ

INTERVIEW WILFRIED HIPPEN

Gemäß dem Klischee ist der Filmmusiker meist unzufrieden mit seiner Arbeit. Das letzte Wort hat immer der Regisseur, die Töne müssen den Bildern dienen und bei den „seriösen“ Kollegen gelten die Arbeiten für die Leinwand auch eher als Handwerk denn als Kunst – dass sie meistens gut bezahlt werden, macht das nur noch schlimmer! Selbst Größen wie Bernhard Hermann und Ennio Morricone waren und sind ihre reinen Orchesterwerke immer viel wichtiger als die „Auftragsarbeiten“.

Ganz anders bei Michael Nyman, der gerne mit einem visuellen Gegenpol zu seinen Musiken arbeitet. So hat er neben Soundtracks für alle frühen Filme von Peter Greenaway und den oscarprämierten „Das Piano“ schon für eine Modenschau von Yohij Yamamoto und das Computerspiel „Enemy Zero“ komponiert. Und gerade hatte in Genua „Something Connected with Energy“ Premiere, das von einem italienischen Energiekonzern finanziert wurde, und bei dem der 64-Jährige zum ersten Mal auch die Videos selbst produzierte. „Für mich ist das ein wichtiger Schritt vorwärts“, sagt Nyman, „denn mein ganzes kreatives Leben lang habe ich immer Musik geschrieben, mit denen Bilder begleitet wurden. Diese fußten auf Ideen, Konzepten und Geschichten von anderen Leuten, die mir persönlich mal mehr und mal weniger gefielen. Jetzt habe ich erstmals sowohl den Klang kreiert als auch die Bilder.“

Seine bisherige Arbeitsweise sah Nyman gleichwohl nie als minderwertig an: „Mir gefällt die Idee, das Musik einen Nutzen hat. Wenn ich ein Streichquartett schreibe, dann besteht der einzige Grund darin, dass es diese Formation von vier klassischen Instrumenten gibt, für die etwas komponiert werden soll, das dann in einem Konzertsaal aufgeführt wird. Bei einem Film dagegen ist die Herausforderung faszinierend, sich mit einem anderen Künstler und dessen Arbeit auseinander zu setzen. Komponieren ist eine ziemlich einsame Arbeit, und da ist es schön, wenn auch außerhalb der ziemlich engen Musikwelt Interesse an meiner Arbeit besteht.“

Als ein anerkannter „seriöser“ Komponist mit einem ausgeprägten Sinn für Humor, der voller Spielfreude aus verschiedenen Genres und Epochen zitiert und dabei eine Vorliebe für ungewöhnliche Ordnungssysteme, Zahlen und Reihungen entwickelt, ist er ein Seelenverwandter von Regisseur Peter Greenaway. Über die 15 Jahre ihrer Zusammenarbeit sagt Nyman im Rückblick: „Je mehr ich die viele konventioneller Arbeit als Filmkomponist mit anderen Regisseuren kennen lernte, desto klarer wurde mir, was für eine ungewöhnliche und unwiederbringliche Situation das für uns beide war.“

Aber nach „Prospero’s Books“ gab es den großen, anscheinend unüberbrückbaren Bruch: „Ich gab ihm meine Musik, die ich für meine Beste und bis dahin am aufwendigsten produzierte Arbeit halte, und als ich dann den Film sah, war ich der Meinung, dass er sie mit weniger Respekt behandelt hatte als früher. Ich war zornig und sagte ihm, dass ich darüber nicht sehr glücklich sei. Seitdem reden wir nicht mehr miteinander.“ Auch bei Nyman gibt es also Konflikte mit Regisseuren. Er selbst formuliert das ganz pragmatisch: Als Filmkomponist wisse man einfach, dass mit seiner Musik „fucked around“ werde.

Da ist es eine durchaus geschickte Wahl, Filme zu vertonen, deren Macher schon tot sind: In Braunschweig wird am Donnerstag im Staatstheater vom Staatsorchester Nymans Musik zu Dziga Vertovs Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“ aufgeführt. Nyman sagt, das Schöne bei Stummfilmmusiken sei, „dass sie kontinuierlich durchgespielt werden. So kann ich alle Figuren und Situationen mit meiner Musik umschließen, sodass eine sinfonische Struktur entstehen kann.“

In Braunschweig wird Nyman nun zudem eine kleine Premiere aufführen, die so aktuell ist, dass sie noch nicht einmal in den Programmheften abgedruckt ist: Bei seinem Solokonzert am Freitag wird er zwar auch seine angekündigten „Greatest Hits“ auf dem Piano spielen – aber daneben auch zu eigenen Bildern: „Vor ein paar Wochen habe ich einen sehr beunruhigenden Sonntag morgen in Auschwitz und Birkenau erlebt“, erzählt Nyman. Dort schoss er Fotos, die er zu einem sechs Minuten langen Film montierte. „Den werden ich in Braunschweig zu ersten Mal öffentlich zeigen und dazu spielen.“