Koloniale Amnesie

Kanzler Schröders Reise nach Afrika zeigt das mangelnde Bewusstsein für die blutige Geschichte Deutschlands – das prägt auch die Politik gegenüber dem Kontinent

Es ist schlecht, in Afrika den Ruf zu genießen, sich vor allem für Frauen, Tiere und Müll zu interessieren

Es ist die richtige Zeit für einen deutschen Bundeskanzler, nach Afrika zu fahren. Am 11. Januar gedachten die Herero in Namibia des 100. Jahrestags ihres Aufstands gegen die deutsche Kolonialmacht, den diese mit Völkermord beantwortete. Zwei Tage zuvor eröffnete die UNO feierlich das Internationale Jahr des Kampfs gegen die Sklaverei – in Ghana, wo 1682 die Sklavenhandelsfirma „Kurfürstliche Afrikanisch-Brandenburgische Compagnie“ die deutsche Wirtschaftspräsenz in Afrika begründete. Der zehnte Jahrestag des Völkermords in der ehemaligen deutschen Kolonie Ruanda folgt am 7. April, und knapp drei Wochen später feiert Deutschlands wichtigster afrikanischer Partner Südafrika den zehnten Jahrestag der freien Wahlen von 1994, die das Ende der weißen Apartheidherrschaft brachten.

So viele Termine, die Geschichte und Selbstverständnis Afrikas prägen – und alle ohne Deutschland. Es bedarf schon einer sorgfältigen Planung, um einer Afrikareise des Kanzlers in diesem Zeitraum jeden historischen Bezug zu nehmen. Die Ausnahme ist Äthiopien, wo demnächst die Planung für die anstehenden Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem äthiopischen Kaiser anläuft. Erstaunlich, woran sich eine Regierung erinnern kann, wenn sie es will.

Der Bezug zu Deutschland wäre nicht nur in Namibia und Ghana evident; er ist es auch in Ruanda und Südafrika. Die südafrikanische Apartheid-Ideologie speist sich aus der deutschen Rassenideologie der Kolonial- und Nazizeit. Südafrikanische Opferverbände klagen derzeit gegen deutsche Firmen, die an der Apartheid verdient haben sollen. In Südafrika wird Schröder nun „soziale Projekte“ deutscher Unternehmen in Südafrika besuchen, „auch für Schwarze“, wie ein Kanzlerberater betont. Investitionen sind ein wohlfeiler Ersatz für historisches Bewusstsein.

In anderen Teilen Afrikas gibt es aber weder Bewusstsein noch Freikauf davon. Dass auch Ruanda über 30 Jahre lang deutsche Kolonie war, zusammen mit dem benachbarten Bürgerkriegsland Burundi, weiß heute kaum noch jemand. Die ruandische Hauptstadt Kigali wurde 1908 von Deutschen gegründet, bis heute gehen Kinder dort in die „Ishuli“. Im Geschichtsunterricht ihrer Reintegrationskurse lernen freigelassene Völkermordhäftlinge, dass das Deutsche Reich ein Freund des Königreichs Ruanda war und dass im Ersten Weltkrieg Ruander und Deutsche gemeinsam gegen Belgier und Kongolesen kämpften, die leider siegten und danach die ruandische Gesellschaft in Hutu und Tutsi spalteten. Die Geschichte der Deutschen in Afrika wird politisch benutzt, mit wenig Rücksicht auf Fakten.

Trotzdem hält sich Deutschland fälschlicherweise für „unbelastet“ in Afrika. Man dürfe die Stabilisierung Afrikas nicht den ehemaligen Kolonialmächten überlassen, begründet Schröders Umfeld die sicherheitspolitische Akzentuierung der Kanzlertour. Ein schöner Beweis für die deutsche koloniale Amnesie, dessen Sinn überdies völlig offen bleibt. Anders als Frankreich und Großbritannien ist Deutschland nämlich weder zu Militärinterventionen in Afrika bereit, noch bietet es sich als Adresse oder Initiator von Friedensprozessen an. Deutschland kommt überhaupt nicht auf die Idee, aus seiner Afrika-Vergangenheit Legitimitätsquellen eigenen Handelns zu schöpfen, weil es sich ja dann zum Beispiel dem Vorwurf des Völkermords stellen müsste. Die deutsche Amnesie wird zur Begründung einer deutschen Sekundärrolle, obwohl viele afrikanische Studenten lernen, dass die Grenzen ihrer Staaten 1884 bei der Berliner Afrikakonferenz festgelegt wurden, was nur in sehr geringem Ausmaß zutrifft.

Damit setzt sich deutsche Politik in Afrika aus afrikanischer Sicht dem Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit aus – und merkt es nicht einmal. Natürlich, so wird man nämlich einwenden, gibt es eine aktive deutsche Afrikapolitik. Sie richte sich auf die Stärkung interventionsfähiger afrikanischer Mittelmächte und Hoffnungsträger – weswegen Schröder jetzt Äthiopien, Kenia, Südafrika und Ghana besucht. Aber an keine der vier Regierungen werden politische Erwartungen formuliert. So wird die Reise auch keine politischen Konsequenzen haben. Wenn Tony Blair oder Jacques Chirac nach Afrika fahren, sieht das anders aus.

Stattdessen spielt wie bei jeder Afrikareise eines hochrangigen deutschen Politikers auch bei Schröder die Umwelt eine herausragende Rolle. Der Bundeskanzler wird in Kenia einen Baum pflanzen und Pilotprojekte der Wasserversorgung besichtigen, und bei der Grundsatzrede am Sitz der Afrikanischen Union in Äthiopien wird sicherlich von nachhaltiger Entwicklung die Rede sein. Jeder deutsche Regierungsvertreter kommt bei Fragen nach der deutschen Afrikapolitik irgendwann auf die Abwasserentsorgung zu sprechen. All dies, zusammen mit dem in der Entwicklungszusammenarbeit fest verankerten Grundsatz der Frauenförderung, betont das deutsche Selbstverständnis einer Weltmacht, die sich für globale Interessen einsetzt.

Aber damit wird nicht das afrikanische Publikum bedient, sondern das deutsche. Da es Deutschland aufgrund seiner Verleugnung des kolonialen Erbes an jeder Empathie mit dem Funktionieren der postkolonialen afrikanischen Moderne fehlt, gibt es keinen Versuch, die Schwerpunkte der deutschen Politik vor Ort nachvollziehbar zu vermitteln – und oft fehlt sogar die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Vermittlung. Es wäre nicht unbedingt hilfreich, wenn Deutschland bei den zumeist männlichen Führungseliten des Kontinents den zweifelhaften Ruf genießen würde, es interessiere sich vor allem für Frauen, Tiere und Müll.

So viele Termine, die Geschichte und SelbstverständnisAfrikas prägen – und alle ohne Deutschland

Auch die gleichzeitige Betonung von Terrorismusbekämpfung und Umweltschutz als wichtigste Herausforderungen in Afrika bilden noch keine abgerundete Politik. Im Gegenteil: Hinter jedem Safaripark in Afrika steht die Vertreibung von Menschen. Als im Juli 1905 der größte antikoloniale Aufstand Ostafrikas begann, der „Maji-Maji“-Krieg gegen die Deutschen im heutigen Tansania – noch so ein Jahrestag –, gingen die deutschen Truppen, gestählt durch die Nachricht von Erfolgen in Deutsch-Südwest, mit einer Politik der verbrannten Erde vor, die mindestens eine Viertelmillion Menschen das Leben kostete; später entstanden auf dem entvölkerten Hochland Nationalparks. Auch in Namibia verdanken die bei deutschen Touristen beliebten menschenleeren und tierreichen Landschaften ihre Existenz der vorherigen Ausrottung der dort ansässigen Bevölkerung durch Deutsche.

Eine Grundlage dafür war der berüchtigte „Vernichtungsbefehl“ des Generals von Trotha, der 1904 die Erschießung jedes Herero innerhalb der deutschen Grenzen in Südwestafrika anordnete. Der 100. Jahrestag dieser Proklamation fällt auf den 2. Oktober, pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit, der viel mit Erinnerung zu tun hat. Das Thema ist also nicht ausgestanden.

DOMINIC JOHNSON