Ein historischer Fehler

Die amerikanische Friedensbewegung muss ihr Verhältnis zum Staat Israel klären. Denn: Solange antisemitische Strömungen Einfluss haben, wird sie unglaubwürdig bleiben

Kritik am Zionismus kann legitim sein, und unter bestimmten Umständen ist sie nicht antisemitisch

Letzte Woche haben zehntausende amerikanischer Juden an den Demonstrationen gegen den Irakkrieg teilgenommen. Darunter auch zahlreiche Mitglieder der Tikkun Community, einer internationalen Organisation, in der Juden wie ich und auch Nichtjuden organisiert sind.

Viele von uns sind jedoch nur schweren Herzens mitmarschiert, denn eine der organisierenden Gruppen, „Answer“ (Act now to stop war & end racism) hatte durchgesetzt: Wer ihre Position zuvor öffentlich kritisiert hatte, durfte bei der Demo nicht sprechen. So ging es auch mir. Warum wurde ich nun ausgeschlossen? Da ich beanstandet hatte, dass Answer Antikriegsveranstaltungen für antiisraelische Propaganda genutzt hatte, die eindeutig antisemitische Züge trug. Wesentliche Teile der Gruppe unterstützten bedingungslos die palästinensischen „Freiheitskämpfer“, die Israel am liebsten aus der Welt bomben wollen.

Es ist empörend und anstößig, wenn Juden, die gegen einen ungerechten Krieg demonstrieren wollen, mit Slogans und Reden konfrontiert werden, die nicht nur Israels Politik ablehnen, sondern sogar den Terror und die Gewalt palästinensischer Gruppen gutheißen.

Um es klar zu sagen: Jahrelang haben rechts gerichtete Juden weltweit jegliche differenzierte Betrachtung des Problems in Bausch und Bogen verdammt. Wer aus der jüdischen Gemeinschaft nicht auf ihrer Linie lag, wurde zum „sich selbst hassenden Juden“ oder eben gar zum Antisemiten erklärt. Ich habe dennoch sowohl die Israelpolitik der Vereinigten Staaten als auch die israelische Politik oft und scharf kritisiert – und mir die dementsprechenden Beschimpfungen des jüdischen Establishments angehört. Aufgrund dieser Erfahrung bin ich mit dem Begriff Antisemitismus sehr vorsichtig.

In der Sache ist und bleibt es für mich jedoch ebenso verabscheuenswert, wenn Israel die Palästinenser entwürdigend behandelt, wie wenn Palästinenser Terroranschläge gegen israelische Zivilisten verüben. Es ist allerdings eines, wenn man Ariel Scharons repressive Maßnahmen gegenüber dem palästinensischen Volk verurteilt. Etwas anderes ist es, wenn man dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Und genau das machen Teile von Answer, und mit ihnen Teile der amerikanischen Friedensbewegung.

Kritik am Zionismus kann legitim sein, und unter bestimmten Umständen ist sie auch nicht antisemitisch. Wenn man etwa nationale Befreiungskämpfe betrachtet, die letztlich zur Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes geführt haben, ist es durchaus möglich, den Zionismus in diesen Kontext zu stellen. In diesem Sinne könnte man demonstrieren gegen: die skrupellosen Menschenrechtsverletzungen des irakischen Regimes, den brutalen Kampf der Russen gegen die Tschetschenen, die brutale Besetzung Tibets durch die Chinesen, den Völkermord der Spanier an den Indios bei der Entdeckung Amerikas, den Holocaust und die Verfolgung der Juden im christlichen Abendland, die Unterdrückung der Menschen in Ländern wie Syrien, Saudi-Arabien oder Ägypten – und die Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel. Wenn man jedoch Israel herausgreift und all die anderen beiseite lässt, erweckt man den Eindruck, es gehe nur gegen Israels Politik – und das betrachte ich als antisemitisch.

Genau das Gleiche passiert in der Debatte um einen möglichen Irakkrieg. Wer behauptet, dass Amerikas Politik nur davon bestimmt sei, was Israel wolle, beginnt antisemitisch zu argumentieren. Vergessen da nicht einige Leute auf der Linken plötzlich, dass die amerikanische Außenpolitik viel mehr von der Bedeutung des Öls bestimmt wird? Ignorieren sie nicht, dass die USA ihr Recht zum internationalen Handeln aus ihrer in langen Jahren gewachsenen Hegemonie ableiten, die wichtiger ist als die Interessen aller anderen Länder? Und haben die Israelkritiker wirklich aus dem Blick verloren, dass die Politik der Bush-Familie aus einem besonderen Hass auf Saddam Hussein motiviert wird? Wer trotz dieser Argumente nur Israel für den Krieg verantwortlich macht, der ist eindeutig antisemitisch.

Es ist doch ganz einfach: Wenn ich mein eigenes Kind besonders scharf tadele, heißt das nicht, dass ich es hasse. Denn wir haben ein spezielles Verhältnis zueinander. Ich fühle mich in außerordentlichem Maße verantwortlich, und deshalb schütze, lobe und kritisiere ich es. Wenn jemand allerdings das Kind eines anderen herausgreift und dessen Verhalten immer wieder missbilligt, und wenn er bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gespräch auf dieses böse Kind bringt, obwohl es sich nicht anders verhält als jedes andere Kind in der Nachbarschaft auch – dann entsteht doch der Eindruck, dass es nicht nur um berechtigte Kritik geht. Die Äußerungen sind also Ausdruck eines ausgesuchten Hasses, der zeigt: Man will dieses Kind einfach nicht akzeptieren.

Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: Lasst das Thema Antisemitismus aus dem Spiel; es wird der Friedensbewegung schaden. Aber warum sollten wir das tun? Ist es dadurch aus der Welt? Nein. Diese Auseinandersetzung muss geführt werden, damit die Friedensbewegung überhaupt glaubwürdig agieren kann.

Das ist nicht nur von nationaler Bedeutung. Wir haben unsere Organisation Tikkun gegründet, um einen „progressiven mittleren Weg“ zu unterstützten – einen Weg, der proisraelisch und propalästinensisch ist. Wir fordern daher ein Ende der israelischen Besatzungspolitik, die Gründung eines palästinensischen Staates sowie Entschädigungszahlungen an palästinensische Flüchtlinge und an israelische Flüchtlinge, die arabische Staaten verlassen mussten. Zudem sollte Israel der Nato beitreten dürfen, damit seine Sicherheit auf lange Sicht gewährleistet wäre.

Es ist empörend, wenn Slogans und Reden auf Friedensdemos den palästinensischenTerror gutheißen

Entscheidend für Israelis wie Palästinenser ist: Das Wohlergehen der einen hängt vom Wohlergehen der anderen ab. Es wird keinen Frieden geben, der nicht auf dem Geist der Versöhnung beruht, auf Großzügigkeit und Offenheit. Diese Werte gelten bisher nichts – und zwar weder beim jüdischen Establishment noch bei den zentralen Gruppen der Friedensbewegung. Erst wenn sie den Antisemitismus überwinden, wird die Friedensbewegung stärker und erfolgreicher werden.

Unglücklicherweise ist es ja oft genug so gewesen, dass ausgerechnet Linke jüdischer Herkunft antisemitische Ideale artikuliert haben. Meist kämpften sie verzweifelt um Anerkennung und wollten so ihre wirklich „universalistische“ Haltung beweisen. Es waren diese antisemitischen Juden, deretwegen man dem Antisemitismus in der deutschen Arbeiterbewegung der 20er-Jahre nicht den Kampf angesagt hatte. Und genau deshalb wandten sich viele nicht rechtzeitig und energisch genug gegen den antisemitischen Rassismus der Nationalsozialisten. Es gibt keinen Grund, diesen Fehler zu wiederholen.

MICHAEL LERNER

Übersetzung: Daniel Haufler