Vishys wunderbare Visionen

Viswanathan Anand spielt Wladimir Kramnik bei der Schach-WM an die Wand, weil er die gewiefteren Sekundanten an seiner Seite hat. Der Inder erweist sich als wahrer Meister der Eröffnungsvarianten. Und der Russe staunt nicht schlecht

„Ich werde auch in den nächsten Spielen die notwendige Aufmerksamkeit walten lassen“

AUS BONN HARTMUT METZ

„Für Kramnik bahnt sich ein Debakel an, man kann langsam Sterbegesänge anstimmen“, urteilt Großmeister Helmut Pfleger. Der eloquente Münchner Fernsehmoderator, der die Partien für die Besucher der Schach-WM in Bonn kommentiert, weiß: Nach der dritten Niederlage binnen den letzten vier Partien hilft dem russischen Herausforderer nur noch ein Wunder, um Weltmeister Viswanathan Anand vom Thron zu stoßen. Vor der heutigen (15 Uhr) siebten von maximal zwölf Partien führt der Inder schier uneinholbar mit 4,5:1,5. Nur dreimal in der 122-jährigen Geschichte der Schach-WM konnte ein Spieler solch einen Rückstand aufholen. Beide Male war Anatoli Karpow beteiligt. Die Legende eröffnete die sechste Begegnung in der Bundeskunsthalle als Ehrengast. Glück brachte der Russe seinem Landsmann nicht. Kramnik verlor zum ersten Mal mit Schwarz, weil er mit der Brechstange den Anschluss schaffen wollte. Anand nahm ein Bauernopfer an, schlug den tollkühnen Angriff ab und zwang den Gegner im 47. Zug zur Aufgabe. „Seine Situation ist hoffnungslos“, befand Karpow anschließend.

Dabei wurde die WM bereits vor dem ersten Zug entschieden. Anand hatte bei der Vorbereitung einfach die besseren Sekundanten. Ihre Waffenwahl auf den 64 Feldern sieht so aus: Die Eröffnungsvarianten sind ihr weites Feld, auf dem sie durch ellenlange Zugfolgen Vorteile schaffen sollen. Gelingt das, vollstreckt ihr Herr und Meister im Idealfall die Steilvorlage zum ganzen Punkt. So geschehen in Partie drei, als Anand bis zum 18. Zug die Variante in neun Minuten herunterspulte. Weil der bis dahin ebenfalls flinke Kramnik in langes Brüten verfiel und 78 seiner 120 Minuten verbrauchte, war klar: Den Turmzug des Inders hatte er zuvor nie auf dem heimischen Analysebrett gesehen. Mühsam ersann der Russe ein brillantes Läuferopfer, das wiederum Anand überraschte. Allerdings konterte er nach langem Nachdenken perfekt. In der fünften Runde nahm Kramnik den Fehdehandschuh auf und wagte erneut die Meraner Variante. Bevor der 33-Jährige jedoch eine Verstärkung seines Teams anbringen konnte, überraschte ihn der Weltmeister diesmal bereits im 15. Zug mit einer Abweichung. Das Szenario der dritten Partie wiederholte sich: Kramnik geriet in der komplizierten Stellung in Zeitnot und patzte. „Es sind schlimme Tage“, jammerte er danach entnervt.

Seit dem Frühjahr werkeln die beiden WM-Finalisten mit ihren Gehilfen und Schachcomputern an den Eröffnungen. Zu Sowjetzeiten hatten die Weltmeister sogar den gesamten Verband mit Hundertschaften hinter sich, wenn gegen ausländische Gegner die „geistige Überlegenheit des Proletariats“ zu beweisen war. Schon im Kommunismus galt: Neuerungen – starke Züge, die bis dato in einer Variante nicht gefunden und gespielt wurden – sind Gold wert! Auch Anand und Kramnik hüteten die tiefer erforschten Eröffnungssysteme penibel. Deswegen rutschten sie in der Weltrangliste seit Januar vom gemeinsamen ersten Platz bis auf Rang fünf (Anand) und sechs ab. Keiner wollte die gesammelten Fallstricke in Turnieren zeigen, da sie dann in der Schachwelt bekannt und für die WM wertlos gewesen wären. Entsprechend schwach schnitten der Inder und sein Herausforderer ab und belegten bei ihren Generalproben in Bilbao beziehungsweise Dortmund ungewohnte letzte Plätze.

Neben den Eröffnungsneuerungen werden selbst die Sekundanten geheim gehalten – schließlich hat jeder Großmeister spezielle Eröffnungsvorlieben, und der Konkurrent könnte mit den Namen auf geplante Veränderungen im Repertoire schließen. Deshalb dementierte Anand nicht, als Gerüchte auftauchten, der mit ihm befreundete Weltranglistendritte Magnus Carlsen, 17, arbeite ebenfalls als Sekundant für ihn. Erst in Bonn gaben die beiden Teilnehmer ihre tatsächlichen Teams preis: Dass Anand wie gewohnt den Dänen Peter Heine Nielsen einsetzt, war keine Überraschung. Schon eher das Engagement seines Landsmannes Surya Shekar Ganguly und des usbekischen Exweltmeisters Rustam Kasimdschanow. Völlig unerwartet sitzt als vierter Großmeister Radoslaw Wojtaszek mit im Boot. Der Pole trug offensichtlich dazu bei, dass der Weltmeister statt mit dem Königsbauern jetzt mit dem weißen Damenbauern das Spiel eröffnet. Daher hat Kramnik monatelange Arbeit auf den falschen ersten Zug verschwendet. Bis auf die sechste Partie verfiel Kramnik stets in langes Grübeln – obwohl der Exweltmeister namhafteren Großmeister in seinem Stab hat: neben dem Weltranglisten-32. Sergej Rublewski (Russland) und Laurent Fressinet (Frankreich, Nr. 46) vor allem Peter Leko. Dem Ungarn entriss der Russe anno 2004 den schon sicher geglaubten WM-Titel mit einem Sieg in der letzten Partie. Dass der Weltranglistenneunte die Lager wechselte, nimmt Anand gelassen: „Peter half mir vor zehn Jahren beim WM-Match gegen Anatoli Karpow. Ich habe kein Problem damit, dass er das interessante Angebot von Kramnik annahm.“ Leko sieht es ähnlich: „Meine Freundschaft zu Vishy sollte nicht darunter leiden. Wir sind Profis.“

Der 29-Jährige erhofft sich durch die Mitarbeit neben einer Beteiligung am Preisgeld von 600.000 Euro „Fortschritte in meinem Spiel“. Über weitere Details mochte der ansonsten so redegewandte Budapester nicht sprechen. Sekundanten müssen verschwiegen sein und sich vertraglich verpflichten, keine der wertvollen Eröffnungsneuerungen bis zur WM zu verpulvern. Schließlich könnte eine Variante noch in den verbleibenden sechs Partien in Bonn aufs Brett kommen. Die Arbeit für Leko, Rublewski und Fressinet bleibt heikel. Bis heute Mittag versucht das Trio im Hotelzimmer verzweifelt, die offene Wunde zu schließen, die Anands Quartett mit der gelungenen Eröffnung aus der dritten und fünften Runde aufgerissen hat.