Lola läuft wieder

Künstler und Studenten aus Prenzlauer Berg, der Kölner Karneval, Liebe und Arbeit und Razzien, politische Paranoia und andere gruppendynamische Prozesse: Die„Perspektive Deutsches Kino“ mit neuen, jungen Spiel- und Dokumentarfilmen

von DETLEF KUHLBRODT

Mit elf Spiel- und Dokumentarfilmen soll die Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ auch in diesem Jahr wieder einen Überblick über „das junge, innovative Kino aus Deutschland“ geben. Geboten wird Verschiedenes: Bernt Fischer berichtet in seiner Dokumentation „Grüße aus Dachau“ von seiner Heimatstadt, in der Touristen, Einheimische, Zeitzeugen und deren Erben eine permanente Tragikomödie aufzuführen scheinen, Martina Döcker erzählt in ihrem Dokumentarfilm „Bernau liegt am Meer“ von jungen Rechtsradikalen in der Brandenburger Kleinstadt, Norbert Baumgartens Spielfilm „Befreite Zone“ berichtet lustig von allerlei Liebeswirren in einer fiktiven Stadt in Brandenburg; die meisten Filme der deutschen Reihe spielen jedoch erwartungsgemäß in Berlin.

„Let it Rock“ von Igor Paasch zum Beispiel, ein Interviewfilm, in dem Szeneveteranen und neu Dazugereiste in Casting-ähnlichen Situationen über den „Szene“-Bezirk Berlin-Mitte sprechen. Wenn dieser Film nicht erst am 14. Februar auf der Berlinale gezeigt werden würde, würde man ihn mit einem gewissen Zynismus als Einstieg in die Filmfestspiele empfehlen, weil am Ende jemand ein hübsches Bonmot ausspricht, in dem es um das Verhältnis zwischen Mitte-Mitte sozusagen mit seinem Jungvolk und dem Potsdamer Platz geht, der ja auch irgendwie noch zu Mitte gehört.

Im Sommer stelle man oft ein Glas mit Honigwasser auf seinen Tisch wenn man draußen Kaffee trinkt, damit die Wespen nicht in den Kaffee springen, sondern sich in dem Zuckerwasserglas versammeln, sagt jemand. Mit dem Potsdamer Platz und dem aus Funk und Fernsehen bekannten Szenebezirk verhalte es sich ähnlich, wobei der Potsdamer Platz dem Glas mit Honigwasser entsprechen würde, der Szenebezirk sei der leckere Kaffee und die Wespen – nun ja – die in Mitte einfallenden Touristen. So ganz haut das zwar nicht hin, weil die Unterschiede zwischen Touristen und Szenebezirklern fließend sind und der Potsdamer Platz auch von Besuchern der Stadt eher selten als Ausgehbezirk missverstanden wird, aber klingt ja ganz nett. Ansonsten graut's einem aber sehr, viele Mittemenschen über die Hoch- und Niedergangszeiten von Mitte, Mode, Ausgehen, In- und Outclubs erzählen zu hören, ist nach zehn Minuten langweilig, völlig unabhängig davon, was die namenlosen Interviewten so erzählen. Dass lediglich von zwei Clubs berichtet wird, mag noch hingehen, regelrecht verlogen ist aber, dass die Rolle, die Drogen im Nachtleben von Mitte spielen, ignoriert wird. Anfang der Neunziger konnte man in einer Kneipe am Hackeschen Markt noch Hasch am Tresen kaufen, und die Clubs waren am attraktivsten, in denen am meisten Leute auf E waren.

Angenehmer, sympathischer und wirklichkeitsnäher kommt da der Junge-Menschen-im-aufregenden-Berlin-Film „Wir“ von Martin Gypkens daher. Es geht um Studenten, Künstler, Neuberliner. Sie wohnen im Prenzlauer Berg, wechseln ständig ihre Studienfächer, ab und zu ihre Freunde, nehmen Drogen, wenn sie auf die Piste gehen, wollen Filme machen oder Clubs einrichten, unterhalten sich übers Leben oder wie man sich am besten umbringen könnte. Die eine schickt die Typen, die sie zu sich ins Bett lockte, danach gleich wieder weg, weil sie nicht mit Fremden neben sich einschlafen kann, der andere ist bisexuell und einer ganz ausgesprochen romantisch. Alles so ganz nett und passt auch gut zu dem Film „Sie haben Knut“ von Stefan Krohmer, in dem die Beziehungs-, Liebes- und Lebensproblematiken der vorhergehenden Generation auf sehr lustige Weise verhandelt werden. Der Film spielt im Winter 1983; die Protagonisten sind Ende zwanzig, Anfang dreißig.

Auf einer einsamen Berghütte in Österreich möchte der sympathisch-ruhige, etwas phlegmatisch wirkende Ingo seine Beziehung zu Nadja retten. Das Pärchen bleibt jedoch nicht allein in der Hütte. Bekannte und Freunde aus dem linksalternativen Umfeld stören die Zweisamkeit. Nur einer fehlt. Das ist Knut. Knut sei verhaftet worden, erfährt sein politisch aktiver Kumpel. Böse Geschichte. Darf man da noch Urlaub machen, als sei nichts geschehen? Sehr lustig, ohne seine ausgesprochen gut gecasteten Helden zu denunzieren, erzählt „Sie haben Knut“ von politischer Paranoia, gruppendynamischen Prozessen und Beziehungsdramatiken und wirkt dabei recht authentisch.

Amüsant ist auch Franz Müllers Spielfilmdebüt „Science Fiction“. Die ersten zwanzig Minuten kommt man aus dem Lachen nicht raus. Nur leider trägt die Ausgangsidee kaum die Hälfte des Films. Es geht um Folgendes: In einem Motivationsseminar trifft der smarte West-Seminarleiter Marius auf den netten Ost-Unternehmer Jörg Karsunke, der die einfachen Prinzipien der „Mental Syntax“ partout nicht begreifen will und nicht mal weiß, wie man eine Tür Erfolg versprechend öffnet. Beim xten Versuch mit der Tür geraten beide in eine Zeitfalle. Von nun an befinden sie sich in einem seltsamen Universum. Sobald sie eine Tür hinter sich schließen, können sich die Leute im Raum nicht mehr an sie erinnern. Das heißt, wenn sie etwa ein Auto haben möchten, setzen sie sich einfach hinein, und sobald sie die Autotür hinter sich geschlossen haben, kann sich der Autoverkäufer nicht mehr an sie erinnern und sie können mit dem Wagen wegfahren. Weil das alles eine schöne Kinderfantasie ist, genießt man den Film eine Weile. Dann gehen einem die Ost-West-Klischees aber doch auf die Nerven.

Bei „Kiki und Tiger“ von Alain Gsponer dagegen hält der Spannungsbogen bis zum Ende. Der Film spielt während der Kosovokrise. Kiki ist ein junger Albaner, wurde von Serben aus seiner Heimat vertrieben und hält sich illegal in Deutschland auf. Sein Freund Tiger ist Serbe, lebt noch bei seinem Vater, kann mit dem Nationalismus vieler seiner Landsleute nichts anfangen und ist außerdem in einer Identitätskrise. Erzählt wird von Arbeit, Liebe, Razzien der Ausländerpolizei und einer komplizierten Freundschaft. Das Milieu, in dem der Film spielt, wirkt glaubhaft.

Der wohl beste, sicher depressivste Film der deutschen Reihe heißt „Narren“, kommt von Tom Schreiber und spielt während des Kölner Karnevals, der hier so gewalttätig, normaloterroristisch und amüsierzwangsgestört wirkt wie vor dreißig Jahren das Oktoberfest in Achternbuschs „Bierkampf“. Der schüchterne Held des Films, Roman, arbeitet in einem Achitekturbüro, pflegt seine kranke Omma, für die er zuweilen auch deren längst verstorbenen Mann spielt. Während der tollen Tage gerät er in eine furchtbare Geschichte, die zuweilen an Polanskis „Ekel“ denken lässt, allerdings auch lustige Elemente hat. Nach dem schwermütigen Film ist man sprachlos und überzeugt, den besten deutschen Film seit „Lola rennt“ gesehen zu haben.