Tod eines Neurodermitikers

In Andrzej Bubiens zwiespältiger Inszenierung von Peter Weiss‘ „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ auf Kampnagel treffen polnische und deutsche Schauspieler aufeinander

von KATRIN JÄGER

Ein schweres Erbe hat der polnische Regisseur Andrzej Bubien angetreten mit seiner Inszenierung von Peter Weiss‘ Revolutionsstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. So viele haben sich vor ihm schon daran versucht, unter ihnen Regisseur Peter Brook mit seiner genialen Verfilmung.

Der Inhalt: Frankreich im Nachhall der Revolution. Der Marquis de Sade (Jaroslaw Felczykowski) ist ein Freigeist und Individualist. Er kritisiert die revolutionären Machenschaften, die seiner Einsicht nach nicht dem Volke, sondern nur dem Machtausbau revolutionärer Führer zu Gute kommen. De Sade sitzt die letzten Jahre seines Lebens im Irrenhaus fest. Dort rechnet er mit der revolutionären Ideologie ab. Er inszeniert die Ermordung des von Neurodermitis peglagten Revolutionsführers Jean Paul Marat (Slawomir Maciejewski) mit Anstaltsinsassen. Dieses Spiel im Spiel lässt tausend und eine Interpretationsmöglichkeiten zu. Zum Beispiel Europa als Irrenanstalt, als Schmelztigel der Gestrandeten, als Hort des Missverständnisses, der Krankheit und des Todes. Die Akteure bemühen sich, ihre Rolle zu spielen, entgleiten jedoch ständig der Norm.

Oberflächlich geht es in der Auseinandersetzung zwischen de Sade und Marat um den ideologischen Widerstreit zwischen Sozialismus und Individualismus, eigentlich um Macht und Kontrolle. Die liegen beim Regisseur de Sade. Er hält die Fäden in der Hand, bestimmt den Verlauf der Handlung. Er schlägt brutal die Revolte der Anstaltsinsassen nieder. Bei Weiss, bei Brook – aber nicht bei Bubien. Dort sind die Insassen eher ein Ballett-Ensemble. Überzeugend blass geschminkt und dennoch hübsch anzusehen in ihrer Choreographie, wie sie da zusammenhocken auf einem großen schwarzen Brett, mitten im Raum, und skandieren: “Nieder mit den Zwangsjacken, nieder mit den Gittern.“ Nicht bedrohlich, dafür auf Polnisch.

Für den deutschsprachigen Zuschauer läuft die Übersetzung simultan auf einer Tafel, die an der Decke hängt. Bubien will mit seiner polnisch-deutschen Inszenierung das Geschehen in polnische Verhältnisse transponieren. Will zeigen, dass sich nichts geändert hat seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. „Polen, mein liebstes Land“, so bekennt der Regisseur, „ist eine Irrenanstalt. Theoretisch haben wir die Freiheit, praktisch ist alles beim Alten.“

Schade, dass Bubiens Versuch, diese These umzusetzen, hier fehlgehen muss. Denn den Jaques Roux, in Weiss‘ Vorlage ein Verkünder revolutionärer Visionen, lässt Bubien von dem deutschsprachigen Roger Vontobel mimen. „Er wird nicht verstanden, seine Stimme dringt nicht durch, weil er deutsch spricht und die Anstaltsgesellschaft polnisch.“ Das mag vor polnischem Publikum aufgehen. Hier versteht der Durchschnittszuschauer, des Polnischen nicht mächtig, aber doch gerade ihn. Ein Beispiel für die Bedeutung des gesellschaftlichen Rahmens, in dem eine kulturelle Veranstaltung stattfindet.

Das eigentliche Opfer dieser Inszenierung ist übrigens nicht der nörgelnde Choleriker Marat, sondern seine Mörderin, Charlotte Corday (Susanne Pollmeier). Bei Weiss ist die Insassin, die die adelige Girondistin spielt, schlafgestört. Bubien legt diesen Zustand als reine Passivität aus. Corday regt sich kaum, die anderen tragen sie hin und her, steuern sie fern. Ihr so genannter „Liebhaber“ Duperret (Pawel Kowalski) vergeht sich an ihr zur Belustigung von Marat und den anderen. Mal ehrlich: Eine dieser aufblasbaren Masturbationspuppen vom Kiez hätte sich in dieser Rolle besser gemacht.

weitere Vorstellungen: heute und morgen, 20 Uhr, Kampnagel (k1)