Im Tausend-Augen-Haus

Ihr vorangegangener Roman brachte Elif Shafak enorme Schwierigkeiten in der Türkei ein. Ihr neues Buch „Der Bonbonpalast“ erzählt von der Geschichtsvergessenheit in Istanbul

VON JÖRG MAGENAU

Einen Roman von hinten zu beginnen ist normalerweise keine gute Idee. Elif Shafaks „Der Bonbonpalast“ ist aber so angelegt, dass man das tun kann, ohne allzu viel vorwegzunehmen. Denn die Geschichte verläuft kreisförmig. Man kommt, wie der namenlose Ich-Erzähler behauptet, „von jedem beliebigen Punkt hinein, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht“. Ganz am Ende aber verrät er, dass er in einem türkischen Gefängnis sitzt, nachdem er bei einer politischen Demonstration am 1. Mai 2002 in Istanbul verhaftet wurde. Mehr als ein Jahr hat er abzubrummen, und so beginnt er zu erzählen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Lüge, Wahrheit, Fantasie und Erzählkunst sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner könnte nichts als Erfindung sein. Auch am kultivierten Selbstbild des Erzählers als gut aussehender, geschiedener Philosophieprofessor, dem die Frauen reihenweise erliegen, darf man zweifeln. Aber was macht das schon: Sind nicht alle guten Geschichten und alle interessanten Figuren mehr oder weniger erfunden?

Zehn Zellen gibt es im Flur der Haftanstalt. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch der „Bonbonpalast“ aus zehn nummerierten Wohnungen besteht. Und weil es im Gefängnis wohl nicht besonders angenehm riecht, liegt in diesem Wohnhaus ein süßlich-fauler Müllgeruch in der Luft. Damit ist der Erzähler dann schon mittendrin in seiner Geschichte.

Der „Bonbonpalast“ steht im Zentrum Istanbuls, an einem Ort, wo zuvor einmal ein muslimischer und ein armenischer Friedhof gewesen waren und ein seltsamer Heiliger gleich zwei Gräber belegte. Das Gebäude wurde in den 60er-Jahren von einem alten russischen Immigranten für seine Frau gebaut, um ihr eine Heimat zu schenken und sie aus ihrer dementen Schwermut zu befreien. Das neue, pulsierende Leben der Stadt entsteht aus dem Vergangenen und dem Vergessen, als handle es sich dabei um eine Humusschicht. Doch die besseren Tage des Hauses liegen lange zurück. An der Gartenmauer zur Straße pflegen die Bewohner des Stadtviertels ihren Müll abzulegen, und sie finden das so normal, dass sie den Ärger des Frisörs, der im Parterre des „Bonbonpalastes“ seinen Salon zusammen mit dem Zwillingsbruder betreibt, überhaupt nicht begreifen können. Der Müll fault und stinkt vor sich hin. Kein Wunder, dass Kakerlaken und anderes Ungeziefer sich pestilenzartig vermehren.

Im Haus wohnen seltsame Menschen, die zunächst nicht viel verbindet. Da ist eine russische Emigrantin, die als gelernte Biologin auf Insekten spezialisiert war, jetzt aber in ihrer Ehe versauert. Ihr Mann betrügt sie mit einer Synchronsprecherin, deren Stimme in einer abenteuerlich schlechten TV-Serie zu hören ist. Da ist der Hausmeister Hadschi Hadschi, der seinen Enkeln zum Ärger der Schwiegertochter andauernd Märchen erzählt. Da ist eine alte Frau, die die Möbel der vorigen Bewohner hütet und kein Ding verloren geben will. Es gibt einen dauerkiffenden Studenten mit riesigem Bernhardiner, eine putzsüchtige Hygienikerin mit kleiner Tochter und eine schöne junge Frau, die „blaue Mätresse“, die von einem Olivenölhändler ausgehalten wird. Treffpunkt des Hauses ist der Frisörsalon der Zwillinge Cemal und Celal, wo die, die sich kaum kennen, wenigstens übereinander tratschen.

Elif Shafak verknüpft die Geschichten behutsam miteinander und widersteht der Versuchung, damit allzu symbolistisch die Stadt Istanbul darzustellen. Dass viele der Hausbewohner Migranten sind oder aus dem Ausland zurückgekehrte Türken, ist allerdings kein Zufall. Auch Elif Shafak, Jahrgang 1971, ist in einer Diplomatenfamilie in Straßburg und Spanien aufgewachsen und kehrte erst zum Studium in die Türkei zurück. Ihr Werk verknüpft westliche und östliche Erzähltraditionen, Rationalismus und Mystik, Westorientierung und türkische Eigenständigkeit.

Istanbul ist eine Stadt der Zuzügler und deshalb eine Stadt ohne Gedächtnis. Als der Ich-Erzähler, um das Müllproblem zu lösen, ein Graffito an der Gartenmauer anbringt und behauptet, hier sei ein Heiliger begraben, macht er sich nur den Aberglauben seiner Landsleute zunutze. Dass er damit religiöse Gefühle verletzt, merkt er zu spät. Von der Legende um den Heiligen mit den zwei Gräbern und dem Friedhof, der hier einmal war, weiß er nichts. Istanbul ist für Shafak eine Stadt, die im Müll und in der Geschichtslosigkeit versinkt. Dass es für den Gestank im „Bonbonpalast“ schließlich eine ganz andere Ursache gibt, ändert daran nichts.

„Der Bonbonpalast“ ist ein Standbild des Lebens in all seiner Buntheit und Vielfalt. Es ist ein schön zu lesender, aber recht harmloser Roman. Ihr voriges Buch, „Der Bastard von Istanbul“, in dem es um die türkisch-armenische Geschichte ging, hat Shafak enorme Schwierigkeiten und eine Anklage wegen „Beleidigung des Türkentums“ eingebracht. Es ist deutlich zu merken, dass sie eine erneute Konfrontation vermeiden wollte. Im „Bonbonplast“ geht sie kein Risiko ein und beschränkt sich auf unterhaltsame Geschichten. Dass mit dem Ich-Erzähler ein Philosophieprofessor aus politischen Gründen im Gefängnis sitzt, ist schließlich auch nur eine Arabeske.

Elif Shafak: „Der Bonbonpalast“. Aus dem Türkischen von Eric Czotscher. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2008, 470 Seiten, 19,95 Euro