On The Road Again!

Über Hippies, Backpacker und Wanderer. Und über die Lust, den Flow beim alternativen Reisen zu entdecken. Ein Rückblick mit Ausblick

von CHRISTEL BURGHOFF und EDITH KRESTA

„Jg. Mann, 26. J., startet im Herbst mit VW-Bus nach Indien. Einem praktischen und selbstständ. Mädel ist gegen geringe Unkostenbeteiligung Mitfahrt geboten. Zuschr. unter Z. 14860 an StZ.“

Mit dieser Anzeige in der Stuttgarter Zeitung vom Juni/Juli 1968 begann das eigentliche Leben der Ludmilla Tüting. Sie ging mit dem jungen Mann auf Reisen und kam erst vier Jahre später zurück. On the road – unterwegs. Von Pakistan nach Indien, über Australien nach Kanada, Kolumbien, Brasilien und schließlich Afrika – aus der 21-jährigen Zeitungsdrückerin war eine Globetrotterin geworden.

Innerhalb von drei Wochen fetzte sie nach ihrer Rückkehr aus Tagebuchaufzeichnungen den Reiseführer „Von Alaska bis Feuerland“ auf Matrizen und verkaufte diesen im Selbstverlag, sage und schreibe siebzigtausendmal. Der erste alternative Reiseführer wurde ein Bestseller. Er erschien zu einer Zeit, als Globetrotterkreise ihren Sehnsüchten nach Wildheit, Ruhe, Einfachheit und Unkultiviertheit hinterherreisten und sich ihre heißesten Tipps noch per Mund-zu-Ohr-Propaganda zuflüsterten. Aus dieser Szene entwickelte sich der alternative Tourismus – auch als Bestandteil einer neuen Subkultur.

Die Abkehr von den spießigen Lebensverhältnissen der Nachkriegsära verband sich mit Hoffnungen auf ein freieres Leben, mit Experimentierfreudigkeit, sexueller Befreiung. Reisen als Horizonterweiterung und als Selbsterfahrungstrip war angesagt, das Ausschwärmen in die Welt war Teil eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Die neue Reiseszene war begierig auf Tipps und Tricks erfahrener Traveller, alternativ zu reisen wurde zu einer Reisebewegung der Jugend.

Das ist Legende. Karrieren wie die der Ludmilla Tüting und der alternative Auf- und Ausbruch – begraben unter den Bettenburgen des Großtourismus, denunziert von Medien und Öffentlichkeit als verantwortungslos, zerpflückt von der Selbstkritik vernünftig gewordener Reisefreaks, transformiert zum sanften Tourismus und ins Ökofach abgeschoben. Ein Stück Geschichte – auch gepflastert mit Weggedrifteten und Drogentoten.

Bommi Baumann, aus dem RAF-Umfeld und selbst Reisender auf der Flucht vor dem Bundeskriminalamt, weilt 1972 in Afghanistan, in Kabul: „1972 herrschte dort das Highlife des Hippietums. Die Stadt war voll von Langhaarigen, die Dope geraucht haben. Diese kosmopolitische Runde mitten in Asien war ganz interessant. Amerikaner, Kanadier, Australier, Neuseeländer und sämtliche Völkerschaften Westeuropas.“ Der Hippietreck, schreibt Baumann, machte damals die Hälfte der Einnahmen des afghanischen Staates aus.

Bommi Baumann war Teil des „großen Aufbruchs“. Es gab die gesellschaftlichen Gegenentwürfe, die Kritik am Kapitalismus, die radikale Abkehr von jedweder Konsumhaltung, zu der auch der Alternativtourismus gehörte. Vom Reisen versprach man sich ganzheitlichen Aufbruch zu neuen Ufern. Undenkbar, bei Neckermann oder Hummel zu buchen und irgendwelchen abgezirkelten Urlaubsfreuden und Sehenswürdigkeiten nachzugehen. Man fühlte sich als Freischärler, Pionier, Drauf- und Einzelgänger, Abweichler.

Leichte Vergnügungen versagte man sich von vornherein. Viel Sehnsucht nach individueller Befreiung; aber angekommen in Goa, stellte Haschrebell Baumann fest: „Die Hippies und Freaks sind damals nicht nur wegen der Drogen in diese Region gefahren, sondern auch um diesen spirituellen Trip im Osten kennen zu lernen. Diese menschliche Erfahrung kann man ja nur noch in Asien machen, und sie erweitert einfach das Menschenbild.“

Der Hippie Trail führte über Istanbul durch den Iran, Afghanistan und über den Khyberpass nach Pakistan und von dort über Indien zur Endstation Goa. Er war, so Baumann, „auf seine Art das letzte große Abenteuer“. Weltweit entstanden überall an schönen Stränden die Mekkas des Hippietourismus: von Big Sur in Kalifornien bis Matala auf Kreta, von Essaouira in Marokko – bis eben nach Goa.

Goa heute, das ist Stoff für RTL2-Reportagen, die sich voyeuristisch auf die Bauchnabel von jugendlichen Tänzerinnen bei full moon raves am Strand konzentrieren. Inmitten von properen Luxusresorts, die in den letzten zwanzig Jahren für die Pauschaltouristen an die Strände gezaubert wurden, hat sich eine neue Jugendszene niedergelassen.

Sie feiert die Feste, wie sie fallen, und wird selbst zur touristischen Attraktion für Inder, die mit Bussen anreisen, um die freizügige Nabelschau fotografieren zu können. Die Hippies von einst frönten dem vollen Mond einmal im Monat, die jungen Traveller von heute feiern Partys ohne Ende. Aus ihren Jack-Wolfskin-Rucksäcken ziehen die Mädels ihre leichten Fummel; aus den Boxen wummert der neueste Sound. Die Backpackerszene ist anders als ihre hippiesken Vorläufer. Den „Lonely Planet“ im Gepäck, sucht sie global die besten Plätze.

Wie beispielsweise im Buch „Der Strand“ des englischen Autors Alex Garland. Der Schauplatz seines Romans ist fantastisch: ein thailändischer Nationalpark, abgeschirmt, kaum zu erreichen über die hohen, bizarren Felsen, die aus dem Meer ragen, Lagunen, Grotten und Puderzuckerstrände, Kokospalmen vor wolkenlosem Himmel, glasklares, türkisfarbenes Wasser, in dem sich Scharen bunt schillernder Fische tummeln. An diesen Ort hat sich Garlands fiktive Kommune von der Welt zurückgezogen. Die Aussteiger frönen dem alten Traum vom Paradies.

Arkadien for ever. Doch es funktioniert nicht. Wie in Goldings „Herr der Fliegen“ und Orwells „Farm der Tiere“, in deren Tradition auch Garlands Geschichte geschrieben ist, zerbricht die Utopie in sich selbst. Die Kommune am schönen Strand geht in einem totalitären und brutalen Finale unter.

Garland, ein junger Autor aus England, macht deutlich, wie wenig überzeugt die junge Generation der Rucksackreisenden, die man heute Backpacker nennt, von den hippiesken Utopien noch ist. Mögen sie auch im Hinterkopf spuken, immer wieder neu ausprobiert werden: Die neue Reisefamilie managt diese Illusionen als eine Option unter vielen. Es kann ebenso gut die ultimative Surferwelle in Australien sein, die hippste Party der Saison oder die strapaziöse Dschungeltour.

Die neue Travellerszene reist pragmatisch und selbstbezogen, frei vom rebellischen Impetus, frei von der Suche nach anderen Ufern, Lebensformen und der Leidenschaft für andere Kulturen. Alles ist entdeckt. Ihre Begeisterung ist ihre Jugend. Mittelschichtskinder üben sich zwischen Abitur und Studium in neuen Initiationsriten. Die Weltreise als Härtetest und der Versuch, sich im Global Village zu orientieren. Sie fühlt sich mit der Welt verbunden und überall zu Hause mit Bekannten all around the world. Per E-Mail kann man sich jederzeit mit jedem zum Spot verabreden. Obsessionen? Passé!

Indem die Backpacker Distanz wahren und sich nur bedingt auf Fremdes einlassen, laufen sie auch nur bedingt Gefahr, vollständig wegzudriften oder auf der Meile der Drogentoten verloren zu gehen. Sie kehren ins Mittelschichtsdasein zurück mit Erfahrungen, die sie vielleicht erwachsener gemacht haben.

Dennoch: Auch die neue Travellergeneration hat keine gute Presse. „Ein bisschen wie Ballermann 6, nur ist der Schauplatz in diesem Fall ein Land mit vierhundert Millionen Armen“, schreibt der Spiegel über das gute Leben in Goa und bezeichnet die Traveller als „Schmuddelhedonisten“ und „die wirklichen Ausbeuter“, die mit Indern um Pfennige feilschen: Goa – ein „anarchistisches Disneyland“, in dem „der Grad der Verkommenheit“ zähle und, je stärker desto besser, einem „Ehrenzeichen“ gleichkomme.

Das klingt fast wie damals, als über Langhaarige im Allgemeinen und über Hippies im Besonderen hergezogen wurde. Sie galten als Spinner und Schnorrer mit einem Hang zu Verschwörungstheorien samt New-Age-Tick. Ethnologen, die damals die alternativen Weltenbummler erforschten, vermeinten, in ihnen „Horden vergammelter Sonnenbader“ vorzufinden, die an den „Stränden faulenzen“ wie „die Neckermänner auf Gran Canaria“.

Im Stern war Anfang der Achtzigerjahre zu lesen, „zur Völkerverständigung“ trügen „die Trotter nicht bei, höchstens zur Vergrößerung der Missverständnisse“. Rucksackreisende bestünden darauf, der unterentwickelten Dritten Welt ihre fortschrittliche, emanzipatorische Einstellung durch nackte Busen und durch Popos in engen Fransenshorts zu demonstrieren. Kurzum: „Billigtourismus auf Kosten der Bereisten“, so die ehemalige Travellerinstitution Ludmilla Tüting. Und weil auch die touristische Industrie an die schönsten Strände dieser Welt drängte, wurden die Traveller in Bausch und Bogen als Vorreiter des Massentourismus gebrandmarkt.

Erstaunlicherweise kamen die schärfsten Kritiker der alternativen Reiseszene aus den Reihen der Alternativtouristen selbst. Von erfahrenen Travellern, die zum zweiten oder dritten Mal an die traumhaften Orte ihrer Sehnsuchtsgeografie zurückkehrten und dort drastische Veränderungen wahrnahmen: An einsamen Buchten hatte sich eine Ferieninfrastruktur herausgebildet, die das Idyll nachhaltig trübte. Sei es durch Menschen, Müll oder deutsches Müsli. Es gab, so stellten sie fest, kein Entrinnen aus den Verwertungszusammenhängen ihrer Gesellschaft.

Auch der alternativ Reisende fand sich als Tourist wieder. Eine schwer verdauliche Einsicht. Was am Tourismus insgesamt abgelehnt wurde – sein Neokolonialismus, seine dominante Art der Begegnung, seine ausbeuterischen Tendenzen – wurde nun wie in einem Brennspiegel auch in der Alternativbewegung entdeckt. War man einst aufgebrochen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, so sah man sich nun selbst als Botschafter dieser gesellschaftlichen Verhältnisse.

Man wollte ein anderer – ein Befrieder sein: und befriedete beim Reisen doch nur sich selbst. Und erschrak heftig. Die Alternative zum Tourismus wurde nun zur Plage und zum schmarotzenden Übel. „Tourismus ist eine Einbahnstraße, und die Wegbereiter sind die Freaktouristen, immer stolz, wenn sie wo als Erste hinkommen, wo sie dann zu allem Überfluss auch noch offen aufgenommen werden, sogar herzlich und mit Interesse für den Einzelnen, wie damals Kolumbus, Cortés und ihre Leute.“ Im Frankfurter Szenezentralorgan Pflasterstrand ging man 1980 hart mit sich ins Gericht.

Man fügte sich so in die Argumentation derer ein, die eigentlich schon immer was gegen Langhaarige und Weltverbesserer hatten. Und man sah sich gar in gnadenloser Selbstüberschätzung als Speerspitze der touristischen Expansion. Zweifellos gab man der Tourismusindustrie Anregungen und Hinweise für Innovationen, aber war man deshalb am expansiven Erschließungskurs der Reiseindustrie schuld?

„Die Welt als Menü und Weinprobe – nichts anderes verkündet die Tourismusphilosophie, und dieses Menü ergänzen die schulmeisterlichen Minderheiten ständig durch die Würze nie da gewesener Gerichte. Die Alternativ- und Antitouristen erneuern die Karte und machen das Geschäft mit dem Sommer zu einem Restaurant, das man gern immer wieder aufsucht, weil man sicher sein kann, stets was Neues vorgesetzt zu bekommen.“ Die französischen Sozialwissenschaftler Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut nahmen die Sache 1981 im Spiegel locker – und blieben eine Ausnahme.

Wo dieses Autorenduo den Alternativtouristen noch augenzwinkernd Fantasie bescheinigte, sahen rigide Kritiker der Szene allüberall Verfehlungen. Und eine neue Ära brach sich Bahn: Allerorten wurden Volksbildungsregeln aufgestellt. Den Alternativen wurde der Blick in fremde Kochtöpfe verleidet, naive Neugier wurde als geschmacklose Vorwitzigkeit heruntergemacht, und der ghettoisierte Pauschaltourist wurde geradezu zum Vorbild kulturschonender, sensibler Nichtbegegnung stilisiert.

Die Achtzigerjahre wurden die Blütezeit einer harschenTourismuskritik. Über Verhaltensregeln für Touristen zu diskutieren war das Gebot der Stunde. Sogar auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin gab es Veranstaltungen für besseres, bewussteres Reisen.

Selbst heute, nach zwanzig Jahren Erfahrung mit der wenig weltverändernden Kraft des Alternativtourismus, geistert der Backpacker als schlimmstes Übel des Tourismus durch die Kritikerszene. Das Informationszentrum Dritte Welt beispielsweise sieht durchaus Unterschiede zwischen dem Hippie von damals und dem modernen Backpacker, nämlich den verstärkten Trend der heutigen Generation zum lustbetonten Individualtourismus.

Doch sie werden in einen Topf geworfen, vor allem als Verführer der Bereisten und als Kulturzerstörer: „Der Demonstrationseffekt des freien, pflichtlosen, zeitlich und finanziell ungebundenen jungen Vertreters einer begehrenswerten Welt der Statussymbole (Sony, Walkman, Reebok) ist umso verheerender, je weniger er bewusst reist – und das ist selten genug der Fall.“ Der Backpacker als Anschauungsobjekt westlicher Dekadenz wie einst der Hippie – als ob es nicht längst Internet, Werbung, Fernsehen, Kino mit ihrer Werbebotschaft für die westliche Welt und eine globalisierte Wirtschaft gäbe.

Diese Kritik ist hoch moralisch aufgeladen – zielt sie doch auf eine spezielle Art der touristischen Begegnung, die noch ein Stückchen Abenteuerlust, und sei es auf der Travellermeile in Bangkok, für sich in Anspruch nimmt. Welch Grad von Unmoral verbirgt sich im Dasein des Backpackers im Vergleich zu den Praktiken der zig Millionen Sextouristen in Thailand!

Ob auf Mallorca oder in Goa: Tourismusverantwortliche wie auch Regierungen armer Länder setzen auf Luxusressorts, Golfplätze, Wellnesseinrichtungen für die Reichen dieser Welt. Der neugierige Einzelreisende, der sich selbst organisiert, stört hier, vor allem das Geschäft.

Doch damals wie heute stimmt: Alternativtourismus fördert mittelständische Strukturen und trägt so zu einer nachhaltigen touristischen Ökonomie bei. Für Seree Wangpaitchir vom thailändischen Fremdenverkehrsamt gilt: „Die Backpacker von heute sind die Geschäftsführer von morgen. Sie bleiben im Durchschnitt länger in Thailand als andere Touristen, geben mehr Geld aus, sind rücksichtsvoller gegenüber unserer Kultur. Sie übernachten in kleinen Guesthäusern, essen in Garküchen. Das schafft Arbeitsplätze dort, wo sie wirklich gebraucht werden.“

Auch die FAZ zeigt Einsicht: „Den Tramper, den arroganten Schmarotzer, der nach kostenlosen Abenteuern sucht, gibt es nicht mehr, und auch die Vorstellung, dass er keinerlei ökonomischen Wert habe, gehört der Vergangenheit an. Dies bestätigt auch John Morse, Direktor der australischen Touristenkommission, denn in seinem Land hat sich Backpacking zu einer gehobenen Art des Reisens entwickelt – so sehr, dass der Wirtschaftsaufschwung ganzer Regionen davon gespeist wird.“ Die Ehrenrettung der Traveller kommt von der ökonomischen Seite.

Tatsächlich konnte das alternative Reisen noch andere segensreiche als nur ökonomische Wirkungen entfalten. Indem es die Utopie einer anderen Reiseform vor sich hertrug, äußerte es Kritik am Bestehenden und versuchte etwas Neues auszuprobieren. Zwar werden in einer auf Machbarkeit und Verwertbarkeit fixierten Gesellschaft die Träume der Abweichler immer als Spinnereien abgetan. Aber nur durch neue Erfahrungen entstehen neue Entwürfe und neue Wirklichkeiten

Erst durch Selbstreflexion der Alternativen und ihre Kritik an der eigenen Praxis wurde der Weg frei für eine neue Praxis. Wurde den Alternativtouristen immer vorgeworfen, den Einheimischen zu nahe zu treten, Gastfreundschaft auszunutzen und in jeden Kochtopf zu blicken, so waren sie doch die Touristen, die die Fremden und ihre Kultur ernst nahmen. So sehr, dass sie oft selbst in deren Kleidung schlüpften und quasi ihre eigene Herkunft verleugneten. Sie waren anpassungswillig und wollten unauffällig sein.

Bei aller interkulturellen Trampeligkeit und Naivität ließen sie die Fremden aufgrund ökonomischer Überlegenheit nicht für sich tanzen und singen, sie suchten Freundschaft unter Fremden. Sie machten interkulturelle Erfahrungen und erfuhren auch die Grenzen und Schwierigkeiten der Begegnung. Somit waren sie auch Vorreiter einer offeneren Gesellschaft, eingeübt in die Begrenztheit der Begegnung. Denn erst mit der Zuwanderung in die eigene Gesellschaft wurde man sich der Schwierigkeit interkultureller Kommunikation überhaupt bewusst und etablierte ganze Wissenschaftszweige zum gegenseitigen Verstehen.

Jene tourismuskritischen Achtzigerjahre waren auch das Jahrzehnt der Ökologiebewegung. Die Alternativtouristen von einst näherten sich den Naturschützern an und umgekehrt. Der sanfte, umwelt- und sozialverträgliche Tourismus wurde erfunden. Man wollte die Authentizität der anderen Kulturen nicht berühren, die Ursprünglichkeit unberührter Natur erhalten und schützen.

Und seit es Konferenzen wie 1992 die in Rio de Janeiro und folgende Nachhaltigkeitsdiskussion gibt, soll Tourismus auch zur Verteilungsgerechtigkeit auf dieser Welt beitragen. Hehre Ideale von Aufbrüchen, Veränderungen und gesellschaftlichen Alternativen suchten sich ihre wenngleich teilweise naive Praxis in Verbesserungsvorschlägen zum Tourismus. Statt Tipps für Geheimplätze wurden nun Anweisungen zum unscheinbaren Verhalten gehandelt: zum Beispiel zurückgezogen am tiefenökologischen Aquarell malen, statt aufdringlich zu fotografieren.

Verantwortungsbewusster Genuss statt entgrenzten Enthusiasmus im Drogenrausch: Gereinigt von seiner bürgerlichen Antihaltung, war der Begriff „alternativ“ gesellschaftsfähig geworden. Mit Alternativen meinte man nun in der Regel „angepasste“ Formen des Tourismus, das heißt konkrete, auch für den Drittewelttourismus geeignete Modelle, die mehr Partizipation der Einheimischen und bessere wirtschaftliche Erträge gewährleisten.

Es schien, als hätten es die normative Kraft der Fakten wie Waldsterben und herabstürzende Berge zusammen mit Zeitgeist und Existenzangst geschafft, die alternativtouristische Szene zur Tugend der Bescheidenheit zu führen. Kleine Lösungspakete schnüren, kleine Brötchen backen – es lief auf kleine Reformschritte hinaus, um den harten Tourismus sanft zu verbessern. Diese „positiven“ Ansätze hatten den Vorteil, dass sich reale Probleme und das Bewusstsein davon harmonisch verbinden ließen – ohne die Verwertungszusammenhänge ernsthaft in Frage stellen zu müssen.

So fuhr man beispielsweise ins revolutionäre Nicaragua, um bei der Kaffeeernte und beim Aufbau des Landes zu helfen. Revolutionärer Elan mündete in Solidaritätsreisen; es entstand eine Vielzahl von Projekten für unterschiedliche Leidenschaften und Engagements. Etwa in Zusammenarbeit mit Naturschützern wurde ökologisches Reisen propagiert. Naturfans können sich heutzutage als Hobbyornithologen in der ukrainischen Wildnis betätigen.

Ein Spezialveranstalter für solche Touren arbeitet mit internationalen Naturschutzorganisationen zusammen. Oder die Ökotour zu Indianern im ecuadorianischen Regenwald in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Ökologisches Reisen will auch das Bundesumweltminsterium fördern – und kreierte in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und Umweltverbänden die Marke Viabono – ein Vertriebsnetz für ökologisches Reisen mit Genuss.

Und ein neuer, sanft touristischer Reisemarkt entstand. Nicht wenige der erfahrenen Traveller nutzten die Zeit der großen Reisen auch für ihre berufliche Orientierung. Bereicherten die einen den Reisebüchermarkt mit neuen Buchkonzepten und Reisetipps, so machten sich andere als Anbieter selbstständig.

Auf der größten Messe des Alternativtourismus in Deutschland, dem „Reisepavillon“, versammelt sich nun seit zwölf Jahren diese Szene einmal jährlich in Hannover. Auf diesem „Marktplatz für anderes Reisen“, wie er sich nennt, finden Besucher von Meditations-, Mal-, und Erlebnistripps in schöne Landschaften bis hin zum wieder beliebt gewordenen Wandern eine breite Palette alternativen Reisens. Ein hoch qualifiziertes, differenziertes Angebot hat sich herausgebildet, das besondere Ansprüche jenseits der konventionellen Pauschalarrangements bedient.

Hier tummelt sich der Professor mit speziellen Wanderwünschen neben der frauenbewegten Frau auf der Suche nach einer spezifischen Infrastruktur, ökoengagierte Familien mit Kindern wie Jugendliche auf Abenteuersuche finden auf sie zugeschnittene Arrangements.

Und traditionell ist der Reisepavillon auch der Ort, an dem das Reisen immer noch selbstkritisch hinterfragt wird. Und wo auch immer wieder die Frage aufscheint nach den Grenzen und Chancen der Verwertbarkeit der Reisewünsche. Denn der Verwertungsprozess der Reisewünsche – ob alternativ oder pauschal – bleibt ambivalent. Die Reise lebt von der Unberechenbarkeit.

Sie lockt uns durch ein Türchen hinaus ins Freie, raus aus der Enge des Alltags, aus Gewohnheiten, bekannten Mustern, aus Überreizung oder Reizarmut. Jeder Aufbruch hat etwas Verlockendes, Sinnliches, Erotisierendes. Man konfrontiert sich neu. Untersuchungen zu den Reisemotiven der Urlauber stellen immer wieder fest: Wichtigstes Reisemotiv ist und bleibt, sich selbst anders unter anderen Bedingungen wahrzunehmen. Positiver. Das ist keine Frage des „Höher, schneller, weiter“, sondern des intensiven Erlebens. Es ist der flow, den wir suchen.

Wir haben alles ausprobiert: Ideologien, Sekten, Religionen, Wahnsysteme, Sehnsüchte, Räusche, Utopien. Wir haben das meiste verworfen. Wir umkreisen entscheidende Frage: Was ist der Sinn der Veranstaltung, die Leben heißt? „Menschen fühlen sich am wohlsten im Zustand des flow, also wenn sie ganz und gar in der Bewältigung einer schwierigen Aufgabe aufgehen, ein Problem lösen oder etwas Neues entdecken.“ So formuliert es der Wissenschaftler Mihaly Csikszentmihalyi, auf den das Konzept des Flow zurückgeht.

Damit meint er die glücklichen Augenblicke, in denen sich „unser Fühlen, unser Wollen und unser Denken in Übereinstimmung“ befinden. Dies sei ein sensibler Prozess, den man bewusst und aktiv üben, hegen und pflegen müsse. Dafür müsse man sich Zeit nehmen, denn nur so entwickelten sich Interesse und Neugier. Die andere, dafür ebenso wichtige Ressource sei die Fähigkeit, die psychische Energie zu kontrollieren – statt auf äußere Anreize und Anforderungen zu warten.

Csikszentmihalyis Überlegungen werden in der Freizeitdiskussion immer populärer. Sie konterkarieren die Angebote der Großindustrie, die vor allem auf regressive, vorgefertigte, normierte, wohl dosierte Attraktionshäppchen setzen, auf Appetizer, von denen wir naschen dürfen, die jedoch selten satt machen, denn zum Essen ist da keine Zeit. Das lässt das Programm nicht zu. Die industrialisierte Reiseindustrie pokert immer höher, frei nach dem Motto: Finden Sie zu sich selbst, indem Sie sich vergessen! Bequemer geht es nicht mehr.

Natürlich, meint Csikszentmihalyi, brauchen wir auch das regressive Sich-fallen-Lassen, alles, was unsere Freizeitindustrie im Übermaß offeriert. Aber als einzige Strategie, sich gut zu fühlen, verleiht es unserem Leben weder Glanz noch echte Befriedigung. Organisiert reisen und sich alles abnehmen lassen, schön und gut, aber wo man nicht selbst zum Zuge kommt, stellt sich auch kein Flow ein. Dazu muss man sich aktivieren, etwas in die Hand nehmen.

Heutzutage propagiert die alternative Reiseszene: Gehen Sie, gehen Sie weg, gehen Sie hin, aber gehen Sie. Oder fahren Sie Rad, gehen Sie klettern, wandern, Kanu fahren. Alles Formen, die mit ihrem Aktivitätspotenzial sehr dem entgegenkommen, was der Psychologe Cikszentmihalyi empfiehlt, um sich wohler zu fühlen. Es sind Formen des Reisens, die umweltschonend und sozialverträglich sind und damit dem gewachsenen Reisebewusstsein der alternativen Szene entsprechen.

Es sind langsame Formen, es ist slow move. So erlebt in der alternativen Reiseszene auch das lange als volkstümelnd verachtete Wandern eine Renaissance. Ob unter dem Kreuz des Südens oder in den Wäldern deutscher Mittelgebirge, als Trekking- und Genusswandern zieht es in die Kataloge der Veranstalter ein. Die Wüstenwanderung ist zum Geheimtipp und zur Wellnesskur für Anspruchsvolle avanciert. „Dein Körper produziert Endorphine, die Chemikalie Gottes“, erklärt voll Pathos der brasilianische Erfolgsschriftsteller Paulo Coelho. Für ihn ist Wandern gar eine „Metapher fürs Leben, eine spirituelle Reise“.

Es ist zumindest eine Metapher für den aufrechten Gang. „Am Ende ruft dir die Straße zu: Okay, komm, mir ist egal, aus welchen Gründen du das machst!“ (Coelho). On the road again! Mögen sich alternative Reiseformen auch zu Marktrennern entwickelt haben, ein Stück Unberechenbarkeit und Ungewissheit lebt darin fort. Das ist ihr Charme.

CHRISTEL BURGHOFF lebt als freie Autorin in Frankfurt am Main; EDITH KRESTA, seit 1990 Reiseredakteurin der taz, lebt in Berlin