bücher für randgruppen
: Dieter Roths „Gesammelte Interviews“

Pfffffffft und blllllm

„Wenn sich das Leben richtet nach dem Falle wieder auf, hab ich die Falle schon gesichtet und haue dem Leben eins drauf.“ Dieter Roth (1930–1998)

„Frühe Schriften und typische Scheiße“ stand auf dem Cover. „1975 vorm einstampfen bewahrt und in zusatzumschlag herausgegeben von edition hansjörg mayer stuttgart london reykjavík.“ Das Buch mit Texten und Zeichnungen des Schweizer Künstlers Dieter Roth und „einem Haufen Teilverdautem“ von Oswald Wiener war ursprünglich im Jahr 1973 in der Sammlung Luchterhand erschienen. Nur ein paar wenige Exemplare waren offensichtlich in den zwei Jahren verkauft worden. 1.200 Exemplare harrten nun mit neuem Einband, rotbraunen Lettern auf weißem Stoffgrund in englischer Broschur auf interessierte Käufer. Offensichtlich vergeblich. Als Ramschware fand ich das Buch in einer Grabbelkiste vor einer Buchhandlung in einer Querstraße des Berliner Ku’damms. Das war 1981 und das Teil kostete fünf Mark. In der Punkatmosphäre jener Tage klang der Titel zusätzlich sehr erfrischend. Besonders, wenn man ihn mit den Buchtiteln von Günter Grass, Martin Walser oder Heinrich Böll verglich.

Ich erwarb das Werk, ein unentdeckter früher Vorläufer der zwanzig Jahre später beliebten Popliteratur? Unbeabsichtigt JA, nur halt viel interessanter, kompromissloser und eigensinniger. Heute wird das mittlerweile seltene Buch in Antiquariaten zuweilen für bis zu stolze 100 Euro angeboten.

Durch das nun von Barbara Wien herausgegebene Buch gibt es die Möglichkeit, seine Geschichte zu erschließen. In „Gesammelte Interviews“ finden sich zahlreiche Hinweise und Erklärungen zum Verständnis Dieter Roths extrem umfangreichen und vielschichtigen Werk. Das Buch umfasst alle bisher veröffentlichten und unveröffentlichten Interviews von 1958 bis 1998. Roth hat sie als eigenständige Kunstwerke gesehen und so funktionieren sie auch. Mit den Interviews kann man sich auf eine überaus lebendige Reise in den Kunst- und Kulturbetrieb begeben, den Neurosen, Eitelkeiten, dem Neid und Freud’schen Versprechern von Künstlern, Galeristen, Verlegern, Vermittlern und Finanziers begegnen und dabei die Entstehung eines selten unabhängigen Werkes beobachten. Oder dem Mysterium Kunst durch Entmystifikation beim Wachsen zuschauen. Denn Dieter Roth nimmt tatsächlich kein Blatt vor den Mund. Seine erfrischende Rücksichtslosigkeit ernüchtert und berauscht auf sehr angenehme Art und Weise.

So erklärt sich, warum er nur selten in etablierten literarischen Verlagen veröffentlicht wurde. „Typische Scheiße“ wurde seinerzeit von Luchterhand nur mit einer „Verramschungsklausel“ im Vertrag verlegt. Roth bezeichnet diese Klausel im Interview mit Mechthild Rausch als „die absolute Härte, Beleidigung von der allerersten Sorte“. Und wir erfahren, dass irgendein unbenannter Sekretär oder Herstellungsspezialist des DuMont Verlags den Künstler zu einem Vorwort drängte – „denen kam es so unverständlich vor“ – und das Resultat mit den Worten „Ich liebe keine poetische Nabelschau“ zurückwies. Im Kunst- und Literaturbetrieb wird eine tatsächlich eigenwillige Haltung gern als Querulantentum abgetan, auch wenn gleichzeitig gern in der Darstellung der Künstler gerade auf deren „Eigenwilligkeit“ und „Unverwechselbarkeit“ gesetzt wird.

Dieter Roth spricht, plaudert, philosophiert, dichtet, zeichnet und stammelt über das Sammeln von Abfall, über seine völlig unaufgeräumte, verstaubte und nie geputzte Wohnung in Stuttgart und seine ordentliche in Reykjavík, ganz sauber, blitzblank und geordnet. Er kommentiert seine Interviews, indem er neben die gedruckten Antworten handschriftliche kritische Anmerkungen fügt und das zuvor Gesagte verdeutlicht, relativiert, verstärkt oder abschwächt. Und das ist immer überaus interessant, denn es gibt etwa fünf bis sechs Dieter Roths. Mindestens. Einer davon hat mal eine Beuys-Installation zertreten, „ein Charakterfehler“, wie er in einem Interview einräumt, „dann ist der Eimer so blllllm weg, und das Fett pfffffffft“. Hundertzwanzigtausend Mark für die Reparatur hat Roth schließlich nicht zahlen müssen. Die Arbeit steht heute als Gemeinschaftswerk Beuys/Roth im Museum des Zwanzigsten Jahrhunderts.

WOLFGANG MÜLLER

Dieter Roth: „GesammelteInterviews“. Hrsg. von Barbara Wien.edition hansjörg mayer,London 2002, 648 S., 39 €