„Wovor haben Sie Angst?“

Gretchen Dutschke wird vor allem als Pressesprecherin ihres toten Mannes gesehen. Ein Gespräch über Männer & Frauen, ungeliebten Kinderdienst sowie Ökonomie & Gewalt 1968 und heute

Interview HEIDE OESTREICH

taz.mag: Frau Dutschke, Sie haben 1996 Rudi Dutschkes Biografie geschrieben. Demnächst geben Sie die Tagebücher Ihres Mannes heraus. Wie sehr ist Gretchen Dutschkes Leben von Rudi Dutschke bestimmt?

Gretchen Dutschke: Sehr. Wir waren verheiratet, hatten drei Kinder. Wir haben viel über Politik diskutiert, und was wir gemeinsam erarbeitet haben, hat mein weiteres Leben bestimmt. Es kam ja nicht alles nur von ihm. Die ganze Beschäftigung mit Umweltpolitik etwa kam von mir.

In Deutschland nimmt man Sie vor allem als Interpretin von Rudi Dutschke wahr. Ist es nicht merkwürdig, eine Art posthume Pressesprecherin zu sein?

Ja, aber wie man sieht, ist es notwendig. Ich finde es normal, dass die Menschen sich an mich wenden. Aber es ist auch schwierig für mich, weil ich jetzt natürlich andere und eigene Projekte habe.

In den USA werden Sie vermutlich anders wahrgenommen?

Ja, komplett. Ich mache dort Friedensarbeit: Die Leute haben keine Ahnung, wer Rudi Dutschke ist. Es ist immer eine Reise in die Vergangenheit, wenn ich nach Deutschland komme.

Sie sagten, dass Sie das Thema Umwelt ins Gespräch brachten. Sie haben auch die Kommune-Idee entwickelt und Ernährungswissenschaften studiert. Der Mann dreht das große Rad der Revolution, die Frau sorgt für Umwelt, Ernährung und das persönliche Wohlergehen. Klassische Arbeitsteilung, oder?

Ich hätte nie gedacht, dass die Umwelt nichts mit der Weltgesamtheit zu tun hat. Sie ist vielmehr zentral. In den Siebzigerjahren hat darüber nur kein Mensch nachgedacht. Ich habe das Thema einfach früher als Rudi erkannt.

Das Geschlechterverhältnis im SDS charakterisiert eine der damals Beteiligten folgendermaßen: „Frauen galten als Zubehör, das nach Belieben weggelegt werden kann.“ Haben Sie das auch so erlebt?

Ich war ja mit Rudi zusammen und habe das persönlich nicht erlebt. Aber bei anderen habe ich es gesehen. Merkwürdigerweise muss es Anfang der Sechzigerjahre noch besser gewesen sein. Aber ab 66 haben die Männer die sexuelle Revolution erstmal falsch verstanden: freie Sexualität statt Heirat. Die Frauen wurden dabei funktionalisiert. Dazu kam, dass die SDSler mit der Revolution beschäftigt waren. Wenn jemand nicht die Funktion erfüllte, die sie ihm zuschrieben, dann war er für sie wertlos. Sie haben nicht an Solidarität oder Freundschaft gedacht. Sie haben die Menschen nicht einfach nur für sich betrachtet – als Menschen –, sondern nur danach gewertet, wie sie sie benutzen könnten.

Dabei sollte der Sozialismus doch auch ein Humanismus sein?

Die haben gar nicht begriffen, was das bedeutet, das haben die Frauen viel besser verstanden. Und heute begreifen die Frauen auch viel besser, was in der Welt losgeht.

Mit Ihnen soll auch nicht immer gut umgegangen worden sein. Sie wurden gemobbt.

Wissen Sie, damals ist so viel Unsinn passiert; heute finde ich das lächerlich. Natürlich hat Dieter Kunzelmann mich schlecht behandelt. Ich weiß, dass ich darüber unglücklich war. Aber wen interessiert das heute? Das war eine Situation wie in der Schule: Es gibt die Ingroup, es gibt Ausgeschlossene.

Infantil, obwohl man progressiv sein wollte. Wie kam das?

Tja, wie kam das? Kunzelmann etwa hatte ein gewisses Charisma. Er konnte andere mitziehen, auch wenn sie wussten, dass er sich eigentlich kindisch verhält. Man kann das nicht politisch erklären, nur psychologisch. Und diese Analyse hat damals niemand geleistet.

Waren die anderen neidisch auf Sie mit Ihrer festen Bindung an Rudi?

Vielleicht. Sie mussten sich auf dem Beziehungsmarkt immer neu behaupten, wir hatten das Problem nicht.

Warum haben Sie eigentlich geheiratet? Das tat man doch gar nicht?

Uns war egal, was die anderen taten und was nicht. Außerdem bekam man in Berlin Geld, wenn man heiratete. Und wir hatten kein Geld.

Das sonstige bürgerliche Dasein in der Kleinfamilie haben Sie aber schon überwinden wollen. Sie werden öfter als die Initiatorin der Kommune-Idee genannt, haben später in Dänemark auch in einer gelebt. Wie sehen Sie diese Idee heute?

In Dänemark war sie noch nicht sehr ausgereift. Jeder hatte nur ein Zimmer. Rudi und ich hatten zusammen ein Zimmer. Das war zu eng. In neuen Versuchen von co-housing funktioniert es: Man kann sich unterstützen, aber jeder kann sich auch in die eigene Wohnung zurückziehen.

War es für Sie selbstverständlich, dass Sie sich eher um die Kinder kümmerten und Rudi unterstützten, während er seine politische Arbeit ungestört durchziehen konnte?

Nein. Theoretisch haben wir gedacht, dass alles geteilt werden muss. In der Wirklichkeit mussten wir andauernd verhandeln. Das war schwierig. Aber es war auch eine besondere Situation: Rudi war krank. Er war angeschossen, er hatte Epilepsie. Ich habe akzeptiert, dass er ein kranker Mensch ist, der wieder gesund werden muss, und dass ich helfen soll. Das hätte ein Mann vielleicht nicht gemacht. Aber die Menschlichkeit ist wichtig. Wenn es traditionell weiblich und konservativ und deshalb schlecht ist, menschlich zu denken, dann, denke ich, sind wir verloren.

Und als er wieder gesund war?

Als er wieder in die Politik einstieg, hatten wir die Kinder. Rudi war oft weg, und ich war zu Hause mit den Kindern. Ich war nicht glücklich darüber. Ich habe gefordert, dass ich auch weggehen kann, aber er war viel mehr weg als ich.

Haben Sie das Zuhausebleiben mit den Kindern als eine Aufgabe gesehen, die Sie auch erfüllen kann?

Nein. Ich habe Kinderdienst gemacht, weil es gemacht werden musste. Nicht weil ich es so geliebt habe.

Das hat Sie nicht davon abgehalten, noch ein drittes Kind zu bekommen?

Nein. Das ist vielleicht widersprüchlich, aber Menschen passen eben nicht in so kleine praktische Schachteln.

Haben Sie an der Frauenbewegung, die damals gerade entstand, teilgenommen?

Das fing erst an, als wir in England waren, ab 68. Dort habe ich mich sehr an der Frauenbewegung beteiligt. Wir betrieben consciousness-raising, also die Analyse unserer privaten Verhältnisse und der patriarchalen Strukturen. In Cambridge waren wir anfangs nur fünf Frauen. Als ich nach einem halben Jahr wegging, waren ein paar hundert Frauen in diesen Gruppen. Die Bewegung ist sehr schnell gewachsen.

Hat das Ihre Beziehung zu Rudi verändert?

Das war in der Zeit, wo Rudi sehr krank war. Er hatte Angst, allein zu sein. Es war ein Lernprozess für ihn, dass er in der Zeit, in der ich in der Gruppe war, allein mit den Kindern zu Hause sein musste. Aber er hat eingesehen, dass es sein musste, und hat’s getan.

Dennoch hat Rudi Dutschke diese Bewegung nie in sein Denken integriert, sich nicht auf sie bezogen. Warum?

Er war begrenzt, wie alle Menschen begrenzt sind. Irgendwie passte die Frauenfrage nicht in sein System – das hat auch mit Haupt- und Nebenwiderspruch zu tun.

Der bislang letzte Selbstverständigungsdiskurs über 1968 war der Diskurs der Verteidigung gegen einen konservativen Angriff. Das linksliberale Feuilleton rechtfertigte die Achtundsechziger mit ihrem teils unklaren Verhältnis zur Gewalt damit, dass sie immerhin die postfaschistische bundesrepublikanische Gesellschaft demokratisiert und modernisiert hätten. War dies das Ziel?

Es war ganz sicher nicht das Ziel, die Bedingungen für den Kapitalismus zu verbessern. Aber man hatte auf der wirtschaftlichen Ebene eigentlich keine Alternative zum Kapitalismus zu bieten. Es gab natürlich Leute, die die sowjetische Produktionsweise übernehmen wollten, aber das war nicht Rudi. Aber was man stattdessen machen wollte, davon hatte niemand eine Idee. Es gab Experimente mit Genossenschaften, aber es gab überhaupt keine Strategie, wie man das Wirtschaftssystem ändern wollte. Rudi hatte immer gehofft, dass das Ziel in diesem Prozess der Revolution klarer werden könnte, aber das hat nicht geklappt.

Ist das für Sie heute ein Problem?

Ja. Heute stagniert die Wirtschaft. Der einzige Ausweg, den die USA im Moment sehen, ist der Krieg. Das ist die offizielle Position der Regierung in den USA.

Aus ökonomischer Perspektive ist ein Krieg auch in den USA nicht unumstritten, oder?

Im Moment geben aber die Cheney-Leute in der Regierung den Ton an, die Extremisten der Republikaner. Sie sind absolut einig, dass der Krieg notwendig ist, um die Wirtschaft anzukurbeln. Da die Wirtschaftskrise als lange Phase betrachtet wird, sagt Bush: Es wird ein langer Krieg sein. Solange das Öl eine Frage ist, wird dieser Krieg weitergehen.

Wie meinen Sie das genau?

Wenn das Privatkapital nicht mehr investiert, ist die keynesianische Idee, dass der Staat investieren soll. Das tut der Staat jetzt. Während Europa noch vom Neoliberalismus redet, ist man in den USA schon lange wieder beim Keynesianismus angekommen. Nur gehen die Investitionen allein ins Militär. Das ist amerikanischer Keynesianismus. Gleichzeitig wollen sie billiges Öl haben. Das wird die Wirtschaft auch ankurbeln. Dass Russlands Ökonomie bei einem billigen Ölpreis kaputtgehen wird, weil sie nicht konkurrieren kann – eine solche Katastrophe in Kauf zu nehmen sind sie bereit. Es wird sich als Delle in der US-Konjunktur bemerkbar machen, aber das ist langfristig egal. Wie es dem Rest der Welt geht, das ist ihnen vollständig egal.

Ich möchte noch einmal auf die Vergangenheit zurückkommen. Dem deutschen Außenminister wurde sein damals unklares Verhältnis zur Gewalt vorgeworfen. Wie war Ihres?

Der Staat hat das Gewaltmonopol. Wenn der Bürger sich nicht fügt, übt der Staat es auch aus. Gleichzeitig brachte dieser Staat Millionen Menschen in Vietnam um. Wie reagiert man auf die Gewalt? Das war damals die Frage.

Heute stehen Sie eigentlich vor demselben Problem. Ihr Staat bombardiert immer noch fremde Länder. Wie antworten Sie heute auf die Gewaltfrage?

Na ja. Man versucht es gewaltfrei, mit Demonstrationen. Das wird nicht viel nützen. Ich fürchte, dass die Unterdrückung in den USA immer stärker wird. Man hat jetzt schon weniger Freiheiten. Der Staat darf in dein Haus, er darf deine gesamten E-Mails lesen, das Internet ist schon unter Kontrolle, alle diese Rechte sind schon weg. Irgendwann wird eine Opposition dagegen unmöglich sein. Es gibt aber kein Anzeichen dafür, dass sich ein Untergrund entwickelt.

Stellt sich die Frage nach illegalen Aktionen für Sie wieder neu?

Ja. Die RAF hat so argumentiert: Hitler kam ganz allmählich; als die Menschen aufwachten, waren ihre Rechte schon weg, und man konnte nichts mehr tun. Die RAF dachte nach dem Tod von Benno Ohnesorg, dass die Situation in der Bundesrepublik so ähnlich sei. Dass man also rechtzeitig anfangen muss, dagegen zu arbeiten. Das war eine falsche Analyse. Und Menschen zu töten, das hat mit einer Gegenbewegung nichts mehr tun. Das war willkürlich, Terror eben.

Also ist Illegalität kein Weg?

Wenn man diese Versuche in der Geschichte betrachtet, haben sie immer im Desaster geendet. Ich weiß nicht, was man heute tun kann. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, wäre, dass Europa als Gesamtheit sagt: Nein, wir wollen diesen Weg nicht gehen. Wir wollen die militärischen Ziele der USA nicht unterstützen. Wenn dieser riesige Markt Europa Nein sagt, dann hat das eine Wirkung. Sie müssen sagen: Wir übernehmen diese Kosten nicht. Warum Sie das nicht sagen, begreife ich nicht.

Zum Beispiel weil man sein Verhältnis zum mächtigsten Staat der Welt nicht verderben will?

Aber wovor haben Sie Angst? Die deutschen Steuerzahler werden den Krieg bezahlen. Aber vom billigen Öl bekommen sie nichts ab. Das bekommen drei amerikanische Ölgesellschaften, keine deutsche. Wovor haben Sie Angst? Die USA werden keine Atombomben auf Deutschland werfen!

In Deutschland interessieren sich immer weniger Menschen für diese Zusammenhänge. Junge Menschen sagen, Politik interessiere sie generell nicht. Bei denen haben Ihre Aufrufe wohl wenig Chancen.

Nur: Die Jugend in den Sechzigerjahren war auch total unpolitisch. Die Meinungsforscher sagten: Was für eine komische Generation ist das, alles ist ihnen gleichgültig, sie interessieren sich nur für Konsum. Zwei Jahre später hatte sich alles total verändert. Plötzlich gab es einen Bewusstseinseinbruch. Das hängt immer auch von weltgeschichtlichen Ereignissen wie eben Kriegen ab.

In Deutschland hat der Bewegung damals aber auch geholfen, dass die Gesellschaft und der Staat sich teilweise idiotisch autoritär verhielten, sodass man ein Gegenüber hatte, das man kritisieren konnte.

In den USA sieht man aber etwas Ähnliches; die Bürgerrechte werden sehr stark beschränkt im Moment. Ich vergleiche die Situation in den USA bewusst mit der in Deutschland in den Dreißigerjahren: Damals hat auch niemand außerhalb Deutschlands die Entwicklung der Nazis ernst genommen. Die USA haben jetzt schon eine Paralleljustiz aufgebaut, die nicht rechtsstaatlich ist, und haben ein Gefangenencamp in Guantánamo, in dem die Menschenrechte nicht gelten. Sie werden es cleverer machen als Hitler. Und die Welt reagiert nicht. Man sieht aber aus der Geschichte, wie das enden kann. In Dänemark schreiben die Server an ihre Kunden: Leider sind Ihre E-Mails nicht mehr privat, die USA können sie lesen. Das hat die Dänen gar nicht interessiert. Sie meinen, sie schreiben nichts, was die USA interessieren könnte.

So ähnlich verhalten sich die meisten Deutschen auch.

Für uns in den USA ist es wichtig, dass Europa Nein sagt zur Politik der USA. Sonst geraten wir in eine Art Kriegsdiktatur, und irgendwann wird Europa mitgezogen – und sei es über Anschläge. Europa kann eine Alternative aufbauen, es kann sich unabhängiger machen von den USA, kann Alternativen zum Öl entwickeln. Wenn ich Sie nur ein bisschen dafür begeistern könnte!

Die Deutschen scheinen mir dafür zu wenig unzufrieden mit ihrer Gesellschaft zu sein.

Aber die Studenten in den USA waren auch nicht unzufrieden. Sie waren nicht schwarz oder unterdrückt. Sie interessierten sich plötzlich für einen Krieg, der sehr weit weg stattfand und der sie eigentlich nicht tangierte. Plötzlich hat man sich für die anderen engagiert. Das ist möglich. Wenn ich meinen Kindern je etwas vermitteln wollte von 1968, dann das. Jetzt muss so etwas passieren.

Es sitzen doch alte Bekannte von Ihnen in dieser Regierung. Sprechen Sie mit denen?

Ich habe Joschka Fischer nicht gesprochen. Aber Stefan Aust, der angeblich jede Woche mit Schröder redet, dem habe ich es gesagt.

Und?

Er sagt, Schröder frage, was er denn anderes tun solle. Sie haben alle Angst. Aber wovor? Der Rest der Welt ist so groß. Europa ist so mächtig. Und es gibt Asien. Die USA werden in den nächsten Jahren wirtschaftlich nicht mehr wachsen, aber China wird wachsen. Das sind die Mächte der Zukunft. Da muss man die Tür offen haben.

Aber eine Bewegung gibt es nicht.

Wahrscheinlich auch, weil es im Moment keine charismatischen Figuren gibt, die so etwas fokussieren könnten. Die von damals sind alle abgeknallt worden. Warum keine nachwachsen, weiß ich auch nicht.

Vielleicht weil niemand mehr mit dem Sendungsbewusstsein aufwächst, die Welt retten zu wollen. Sie und Rudi hatten einen religiösen Hintergrund.

Aber damals war das selten. In den USA etwa Mario Salvio oder Abbie Hoffman, die waren auch nicht religiös. Sie waren allerdings red diaper babies [red diapers: rote Windeln; die Redaktion]. Sie waren Kinder von Kommunisten, hatten also auf jeden Fall einen Glauben.

Heute wächst man pragmatisch auf.

Na ja, die Kinder der Achtundsechziger gibt es ja auch noch.

Ihre zum Beispiel. Werden die einmal eine Rolle spielen?

Ich glaube nicht. Sie sind links und politisch interessiert. Aber Hosea und Polly haben beide gesagt: Unser Vater ist umgebracht worden. Das müssen wir nicht wiederholen.

HEIDE OESTREICH, 34, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz