Antiziganismus-Studie: Romantische Dämonisierungen

Klaus-Michael Bogdal untersucht, wie sich Unkenntnis über Sinti und Roma in Vorurteile verwandelt. Auch in der Literatur sind sie verbreitet.

Sinti und Roma werden auch heute noch ausgegrenzt - wie hier in Frankreich. Bild: dpa

Wie konnte es dazu kommen, dass die Roma seit ihrer Ankunft in Europa ausgegrenzt und verfolgt wurden? Was liegt den Stereotypen zugrunde, die bis heute fortdauern? Mit diesen zentralen Fragen setzt sich Klaus-Michael Bogdal in seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner" eingehend auseinander. Angesichts des bedrohlichen Wiederauflebens des Antiziganismus in Europa sind es dringende Fragen.

Bogdal ging vor allem der Darstellung der Roma in der Literatur und damit auch den Klischees auf den Grund, die über die Roma vorherrschen. Er durchforstete zudem Chroniken, Rechtsdokumente und ethnografische Werke. Bodgal untersucht die Fremdheitskonstruktion als komplexen Prozess, der im Laufe der 600-jährigen Geschichte der Roma in Europa zum Entstehen von Vorurteilen beigetragen und ihnen den Zugang in die Gesellschaft von Anfang an verwehrt hat.

Schon der Zeitpunkt ihrer Ankunft in Europa ist ungünstig. In der christlichen Welt des Spätmittelalters noch als Pilger und Büßer in den Chroniken vermerkt, finden sich spätere Roma-Generationen in einer Phase des Umbruchs in Europa wieder, die zur Bildung der Nationalstaaten führen wird.

Das verheerende territoriale Denken fasst Fuß, rechtlicher Status wird mit Herkunft verknüpft und Erfassungsmaßnahmen lassen ihnen keinen Weg zum legalen Existieren: Roma sollen entweder in ihr irrtümlicherweise in Ägypten vermutetes Ursprungsland zurückreisen oder werden den Bettlern und Gaunern unter der verarmten, nichtsesshaft gewordenen Unterschicht zugeordnet.

Gut geeignet für Projektionen

Immer wieder stößt man bei der Lektüre von Bogdals Buch auf Parallelen zur gegenwärtigen Situation. Wie im Übergang vom Spätmittelalter zur Moderne versuchen Staaten im Zuge der EU-Erweiterung, an einer nationalen Einförmigkeit festzuhalten und sich gegen Minderheiten abzugrenzen.

Antiziganismus ist als konstitutiver Teil der europäischen Geschichte zu verstehen: Die Erschaffung des "Anderen" dient dem Bedürfnis der Mehrheitskultur, sich von den Roma zu distanzieren. Am Abstand zu den "Zigeunern", denen man eine Unfähigkeit zur Zivilisierung unterstellt, misst man den Fortschritt der eigenen Kultur.

Die Roma, über deren Geschichte es kaum schriftliche Dokumente gibt, eignen sich gut für allerhand Projektionen. Obgleich der Antiziganismus besonders in jüngeren Zeiten viele Elemente des Antisemitismus auffängt, unterscheidet er sich von diesem Bogdal zufolge schon in der Ausgangsposition. Die Juden versucht der Antisemitismus stets zu entwerten, während den Roma, deren Herkunft und Kultur bis zum 18. Jahrhundert unbekannt bleiben, erst gar kein Wert zugebilligt wird.

Selbst als im Zuge der Aufklärung entdeckt wird, dass die Roma eine eigene Sprache und Kultur besitzen und frühere Zuschreibungen eigentlich hinfällig werden, passt man die neuen geschichtlichen Befunde lediglich den bestehenden Vorstellungen an. Als linguistische Untersuchungen den Ursprung der Roma in Indien orten, wird die Sprache der Roma rasch zu einem "verkommenen Dialekt des Sanskrit" abgewertet und die Roma werden zu "Nachfahren der niedrigsten indischen Kasten".

Anhand verschiedener literarischer Quellen zeigt Bogdal, dass Stereotype von "Zigeunern" im wahrsten Sinne des Wortes erdichtet sind. Sie werden beliebig eingesetzt, um irrationelle Ängste und heimliche Bewunderung zu bedienen.

So verleitet der im 30-jährigen Krieg übliche Kinderhandel mitunter Lope de Rueda zu Stücken über kinderstehlende Zigeuner, das mit Cervantes' Figur der "Preciosa" entworfene Sinnbild der "sensuellen Zigeunerin" wiederholt sich bei anderen Schriftstellern. Bei den Roma werden Geheimnisse vermutet, die "Zigeunerversteher" wie Borrow zu lüften bestrebt sind.

Gravierende Folgen

Bogdals Buch erläutert, wie die entfremdenden Bilder in beschämender Weise vor allem von Kulturträgern wie Goethe, Strindberg und Shakespeare vorangetrieben wurden. Dank eines fahrlässigen Umgangs mit den wenigen vorhandenen Quellen werden Gerüchte, Fantasien und Geschichten zu "Informationsquellen" aufgewertet, und Edikte gegen nomadisierende Roma dienen literarischen Gestaltungen von "kriminellen Zigeunern" als Grundlage.

Vorurteile gegen das imaginäre Kollektiv verselbstständigen sich und werden so oft ungeprüft wiederholt, bis sie schließlich tief im europäischen Bewusstsein verankert sind. Revidierungen scheinen in den 600 Jahren kaum zulässig. Ganz gleich, ob die Geschichten über die Roma gezeichnet sind von romantisierender Faszination oder Verachtung, die Folgen für das reale Leben der Roma sind entscheidend.

Die Kenntnis dessen und der Ursachen dafür, dass die Vorurteile überhaupt entstehen konnten, sind notwendig, um ein Umdenken zu bewirken. Klaus-Michael Bogdals Buch ist für das Verständnis der gegenwärtigen Situation der Roma in Europa und deren Hintergründe unentbehrlich. Man möchte hoffen, dass es seinen Weg in den Geschichtsunterricht und auf den Schreibtisch von Politikern findet - denn, wie Bogdal so treffend bemerkt, der europäischen Kultur ist die Fähigkeit zur Entzivilisierung noch nicht abhandengekommen.

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