Wider den politischen Kleingeist

Wer repräsentiert gegenwärtig die Globalisierungselite, wer die sogenannten Abgehängten? Und gibt es überhaupt „die Mitte“? Franz Walter analysiert in „Baustelle Deutschland“ Schalheit und Erosion der Parteien

VON BENJAMIN MIKFELD

Politische Geschichte wird gemacht – und zwar von Parteien, die Ausdruck und Träger fundamentaler gesellschaftlicher Strömungen sind. Erfolgreiche Parteien wiederum haben konfliktgestählte Leader und in den jeweiligen Milieus verwurzelte aufopferungsvolle Parteisoldaten zur Voraussetzung. In etwa so lautet eine Zentralthese des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter, die zahlreichen seiner Analysen der deutschen Parteienlandschaft und auch seinem aktuellen Essay zugrunde liegt.

Mit seiner Fähigkeit, die Entwicklung von Parteien im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, ist Franz Walter eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen in der deutschen Politologenzunft. Das Grundstück seiner „Baustelle Deutschland“ sind die gesellschaftlichen Schichten und Milieus, die er präzise analysiert.

In den Premiumlagen der Upper Class wird das Führungsmilieu der klassischen Konservativen abgelöst durch die den ständigen Wandel bejahenden Globalisierungseliten. Sie wählen Union oder FDP, da McKinsey nicht auf dem Wahlzettel steht. Doch sie verachten die Routinen der Politik, weil diese mit dem Tempo des modernen Kapitalismus nicht annährend Schritt halten können. Im gesellschaftlichen Elendsviertel hingehen bedeutet der beschleunigte Kapitalismus Bedrohung. Die Unterschichten (über-)leben im Hier und Jetzt, haben den Glauben an Zukunftsplanung und einen möglichen Aufstieg verloren und richten sich notgedrungen in Nischen und Parallelgesellschaften ein. Auf die ständige Bevormundung durch Mehrheitsgesellschaft und Politik reagieren auch sie mit Verachtung – die in diesem Fall von der Politik mehrheitlich erwidert wird.

Bleibt die viel umworbene Mitte. Eigentlich gibt es „die Mitte“ nicht, sie teilt sich in verschiedene Milieus. Was sie am ehesten eint, ist die neue Unsicherheit und das Bedürfnis nach Klarheit und Verlässlichkeit. Sie hat Nase voll von Mobilisierungsappellen und Ruck-Reden. Aber zu Recht räumt Franz Walter auf mit der vorschnellen These von einem politischen „Linksruck“.

Viele Mitte-Menschen wollen Mindestlöhne und Bürgerversicherung, weil sie nach Sicherheit streben. Und wählen doch das Gegenteil. Genau an dieser Nahtstelle zwischen Normalbürgern und politischen Eliten verläuft die spannendste und auf den ersten Blick widersprüchliche Analyse der „Baustelle Deutschland“. Die „Mitte“ verlangt nach einer Politik, die schlicht und einfach die spürbaren Probleme löst. Und an der Tankstelle, beim Fluchen über die Benzinpreise, besorgt sie sich das aktuelle Esoterikmagazin, um den eigenen Sinncontainer wieder aufzufüllen.

Die beiden großen Volksparteien leisten genau dies nicht mehr. Franz Walter sieht sie von ihrem Zentrum her erodieren. Ihre Politik sei schal, ihre Impulse erloschen.

In der europäischen Sozialdemokratie erkennt er eine Partei der „mittelalten Müden und Ausgebrannten“. Die Verbindung zum Unten habe sie gekappt. Hin- und hergerissen zwischen dem „Ornament der Vergangenheit“, dem demokratischen Sozialismus und der Parole von der „Einsicht in die Notwendigkeit“ fehlten ihr die Sprache und das Ideensystem für den Kapitalismus der Gegenwart.

Ihr christdemokratischer Gegenspieler hingegen sollte sich nicht zu früh freuen. Auch der Union bescheinigt Walter eine schleichende Auszehrung. Das Konservative habe als Ordnungssystem an Bedeutung verloren, die traditionellen Quellen der Bindung an die Christdemokratie würden versiegen.

Wenn die Noch-Volksparteien zu „Allerweltsparteien“ mutieren, könnte die Zeit der noch Kleinen kommen. Die Grünen sieht er als Partei der linksliberalen urbanen gut Qualifizierten und die FDP als Partei der neoliberalen Globalisierungseliten. Im gesellschaftlichen Unten wiederum sammeln die populistischen Parteien die „geistig Obdachlosen“ und nicht mehr Repräsentierten auf – in Deutschland ist dies, so Walter, vor allem die „neue alte Linke“. Ihr Alleinstellungsmerkmal liegt seiner Auffassung nach darin, dass sie als einzige Partei die Risiken des aktuellen Kapitalismus thematisiert und nicht in erster Linie die Chancen.

Jedoch betrachtet er die prognostizierte Entwicklung zum Vielparteiensystem nicht frei von neuen Widersprüchen, selbst wenn ganz neue Koalitionen denkbar sind. Den neoliberalen Globalisierungseliten wird jede denkbare Koalition zu undynamisch sein. Die Linkspartei wird in jeder Regierungsverantwortung auf den Boden der Realität gezwungen. Und Schwarz-Grün? Bei aller Kumpelei der Politik- und Medieneliten sind die urbanen Linksliberalen von der Kernwählerschaft der CDU meilenweit entfernt.

Ein theoretisch möglicher Ausweg wäre das Mehrheitswahlrecht, das er mit guten Gründen ablehnt. Stattdessen geht sein Plädoyer in die Richtung „plebiszitäre Ausdrucksmöglichkeiten“, also Elemente direkter Demokratie als Ventil in das deutsche System einzubauen.

Sicherlich werden politische Insider die Thesen Walters als übertrieben und unfair werten. Doch er legt den Finger in offene Wunden. „Baustelle Deutschland“ ist eine Anklageschrift wider den politischen Kleingeist und die „pausbäckige Begriffslosigkeit“ der Politik. Diese Anklage richtet sich vor allem gegen die politische Linke. Sie brauche seiner Meinung nach „eine neue Analyse, eine neue Strategie, ja ganz und gar neue Begriffe“. Dem ist wenig hinzuzufügen – außer vielleicht der Kleinigkeit einer neuen Analyse, einer neuen Strategie und neuer Begriffe.

Franz Walter: „Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 256 Seiten, 10 Euro Benjamin Mikfeld, geb. 1972, ist Leiter der Abteilung Planung und Kommunikation beim SPD-Parteivorstand