Sie kann mit ihren Armen fließen

Inspiriert vom Leben des legendären Tänzers Waslaw Nijinsky und immer am Rande des Wahnsinns entlang: Elfi Mikesch und die behinderten Schauspieler des Theater Tikwa haben das Stück „Brennendes Pferd“ erarbeitet

Ende der 60er-Jahre adoptierte Robert Wilson den gehörlosen Jungen Raymond Andrews. Damit veränderte er nicht nur seine eigene und die Welt des Kindes, sondern auch die des Theaters. Denn Wilsons erster internationaler Erfolg war die Oper „Deafman Glance“, die sich von der Wahrnehmung der Taubstummen inspirieren ließ. Wilson selbst war als Kind sprach- und lernbehindert; die „Byrd Hoffman School of Byrds“, in der er später Theaterperformances als Therapieform erarbeiten sollte, ist nach der Ballettlehrerin benannt, die ihm als Kind beibrachte, äußere Eindrücke an die eigene Geschwindigkeit der Wahrnehmung anzupassen. Ohne die künstlerische Auseinandersetzung mit Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen von Behinderten hätte es die Theateravantgarde seit den 70ern so nicht gegeben.

Von Wolfgang Fliege wäre Wilson entsprechend fasziniert: Was der schicke ältere Herr Fliege sagt, versteht man akustisch zwar nicht immer, dafür bilden Stimme, Gesten und Bewegungen eine formvollendete Einheit – als folgte die gesamte menschliche Erscheinung den Gesetzen einer geheimen Partitur. Sabrina Braemer kann mit ihren Armen fließen. Tim Petersen hat eine so berührend hohe und zarte Singstimme, dass man ihn zum Countertenor ausbilden könnte. Und Alexander Langes trockene Kommentare, die vom Rollstuhl am Bühnenrand aus die Luft zerteilen, sind einfach konkurrenzlos: „Weitermachen!“

Das Ensemble des Theater Thikwa ist behindert. Seit 1990 macht es in Kreuzberg Theater, in die überregionalen Feuilletons kamen die Schauspieler durch zwei Filme: Zuletzt als ambivalent anmutende Besetzungsidee für eine WG von „Spastis“ im Spielfilm „Kroko“ von Sylke Enders, davor durch den berührenden Dokumentarfilm „Verliebt bleiben, verrückt bleiben“ von Regisseurin Elfi Mikesch (1996). Nun zeigte Mikesch mit „Brennendes Pferd“ in der neu eröffneteten Thikwa-Spielstätte F40 ihre erste Theaterregie.

Dabei hat sie sich vom Leben des Tanzgenies Waslaw Nijinsky leiten lassen und daraus bunte, varietéartige Bühnentableaus entwickelt. Nijinsky, irgendwann zwischen 1888 und 1890 in Kiew geboren und 1950 ganz sicher in London gestorben, revolutionierte mit „Nachmittag eines Fauns“ die Tanzchoreografie und hielt als Tänzer schwerelos Sprünge und Zeit in der Luft an. Peter Pankow gibt, indem er Tagebuchzitate Nijinskys vorträgt, dem Abend einen traumwandelnden Leitfaden. Figuren aus Igor Strawinskys Petruschka-Ballett bevölkern den Bühnenraum, Clowns posieren, fast alle Figuren tragen Röcke über den Hosen. Aber dass der Puppenspieler bei Mikesch nicht wie bei Strawinsky zum Schluss flüchten kann, weil er im Rollstuhl sitzt, geht im Gestus der Vorführung ebenso verloren wie spezifisches Ensemble-Potenzial ungenutzt bleibt.

„Sich ein Bild von etwas machen heißt auch, sich einen Begriff zu bilden“, steht auf der Thikwa-Homepage. „Behindert sind die anderen, wissensbehindert, weil die nicht erkennen, was du für Fähigkeiten hast“, sagt der Protagonist in Elfi Mikeschs Film. Beidem möchte man unbedingt zustimmen. Und so wünscht man sich eine Inszenierung, die die Behinderung ihrer Protagonisten in theatrale Verrücktheiten verwandelt, anstatt Verrücktheit zu bebildern.

ANJA QUICKERT