Lenin, erwache!

Ein eindrucksvolles historisches Zeitdokument von großem Wert: Josef Koudelkas Fotografien vom Prager Frühling 1968

VON TANIA MARTINI

Frühling in Prag, ein Paar spaziert eng umschlungen durch die Straßen. Entlang einer Hauswand, an der in großen Lettern die Parole prangt: „Kollaborateure, schämt ihr euch nicht?“ – Ein Foto, das beinahe auf ironische Weise private und öffentliche Sphäre miteinander verknüpft, aufgenommen in einem Frühling, der kein gewöhnlicher war. Es entstand in den Wirren des Jahres 1968, in den Tagen zwischen dem 21. und 28. August, die als das Sieben-Tage-Wunder in die Geschichte eingehen sollten – oder eben einfach als: Prager Frühling.

Es ist eines von 249 Schwarzweißfotos aus dem nun erschienenen Fotoband „Invasion Prag 68“ des tschechischen Fotografen Josef Koudelka, der auf eindrückliche Weise die dramatischen Ereignisse dokumentiert, die sich nach dem Einmarsch von mehreren hunderttausend Soldaten der Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR ereigneten.

Josef Koudelka, damals 30 Jahre alt, fotografierte mittendrin. Er war Beteiligter, Demonstrant, kein distanzierter Beobachter. Seine Fotos sind zumeist aus unmittelbarer Nähe aufgenommen, was ihnen zu ihrer Intensität verhilft. Manchmal verdichtet sich das historische Ereignis auf Gesichter, in denen die Wut, die Verzweiflung, der Schmerz und all die Emotionen zu lesen sind, die Menschen in der Lage sind zu empfinden.

Koudelka hielt alles fest: die einrollenden Panzer, in den Straßen zusammenlaufende Menschen – schockiert, angstvoll, weinend. Seine Fotografien zeigen, wie sich Armee und Bevölkerung gegenüberstanden, den unbewaffneten Widerstand, die zunächst abwartenden Soldaten. Sie zeigen den Wenzelsplatz, von antisowjetischen Flugblättern übersät, abmontierte Straßenschilder, die aus Prag ein Labyrinth machten, Gruppen von jungen Leuten, die siegessicher und fahnenschwingend auf Transportwagen herumfuhren, und an den Hauswänden sieht man „Lenin, erwache!“ wie ein Menetekel, eine Parole, die in diesen Tagen am häufigsten zu lesen war. Dann: brennende Autos, Menschen, die mit Stöcken auf Panzer einschlagen, zerschossene Fassaden, und schließlich die Toten, die es gab. Die Menschen tragen Fotos von Alexander Dubček durch die Straßen, Transparente, die vom Glauben an den Reformer zeugen. Ein dokumentarischer Beweis dafür, dass die meisten Bürger an ihre Repräsentanten glaubten, die den Konflikt zwischen Liberalisierung und Diktat aus Moskau nicht lösten.

Die Dramaturgie der Fotografien, die von Pressemeldungen, Augenzeugen- und Zeitungsberichten begleitet werden, folgt der Chronologie der Ereignisse. Ein Auszug aus dem Bericht des damaligen Sekretärs im KSČ-Zentralkomitee, Zdeněk Mlynář, berichtet von dem Moment, als Dubček und fünf weitere Reformkommunisten von Soldaten abgeführt und in die Ukraine, schließlich nach Moskau verbracht wurden. „Plötzlich flog die Tür von Dubčeks Büro auf, etwa acht Soldaten und niedere Offiziere stürmten herein, stellten sich rings um den großen Tisch hinter uns auf und richteten ihre Waffen auf unser Genick … Jemand, vielleicht Dubček, sagte etwas, und der Oberst schrie: ,Nicht sprechen, stillsitzen! Kein Tschechisch sprechen!‘ “ Aber nicht die Tatsache, dass Dubček verhaftet wurde, sondern der Befehl, die Muttersprache nicht mehr benutzen zu dürfen und damit des letzten autonomen Merkmals eines souveränen Landes beraubt zu werden, brachte Zdeněk Mlynář dazu, sich zur Wehr zu setzen.

Koudelka, der als Theaterfotograf begann, konnte die Fotos aus Angst vor Repressalien nach der politischen Restauration, der sogenannten Phase der Normalisierung, in der ČSSR nicht veröffentlichen. Der Prager Frühling war zu einem Nichtereignis geworden, über ihn wurde nicht mehr gesprochen. Weder über den „Erneuerungsprozess“ unter Reformer Alexander Dubček noch über das drastisch ansteigende Engagement der Bevölkerung für mehr Demokratisierung oder den Widerstand gegen die sowjetische Invasion und sein blutiges Ende.

Die Fotodokumente des ehemaligen Luftfahrtingenieurs gelangten auf Umwegen in die USA und in die Hände von Elliott Erwitt, dem damaligen Präsidenten der Agentur Magnum Photos. Bereits 1969 publizierte Magnum Koudelkas Fotoreportage in internationalen Zeitschriften. Ihr Urheber blieb anonym.

Noch im gleichen Jahr erhielt der anonyme „Prague Photographer“ – kurz PP – in Abwesenheit die renommierte Robert-Capa-Goldmedaille. 1970 kehrt Koudelka von einer dreimonatigen Reise nach Westeuropa nicht in die Tschechoslowakei zurück. Er erhielt zunächst in England Asyl. Der in Deutschland viel bekanntere französische Fotograf Henri Cartier-Bresson war ihm lange Jahre ein Freund und Unterstützer, Koudelka nahm später die französische Staatsbürgerschaft an. Erst 1984, als durch den Tod des Vaters die Gefahr für die in der Tschechoslowakei verbliebene Familie nicht mehr bestand, legte er seine Autorschaft offen. Dort wurden seine Fotos erstmals 1990 veröffentlicht.

Für „Invasion Prag 68“ hat der Fotograf selber die Auswahl aus seinen Straßenfotos getroffen, viele davon sind hier erstmals veröffentlicht. Innerhalb der Reportagefotografie haben sie längst den Klassikerstatus erreicht. Einige unter ihnen sind ihrem Objekt gegenüber so konfrontativ, dass sie geradezu gewaltsam den Blick in Beschlag nehmen. Vielleicht verhielt es sich so, wie Koudelkas Freund Cartier-Bresson einst formulierte, als er sagte, das Fotografieren sei eine Art, zu schreien, eine Art, sich zu befreien.

In jedem Fall sind Koudelkas Fotos von unschätzbarem dokumentarischen Wert, um einen Blick auf einen entscheidenden historischen Moment in der Geschichte Prags werfen zu können.

Josef Koudelka: „Invasion Prag 1968“. Mit Texten von Jiří Hoppe, Jiří Suk, Jaroslav Cuhra u. a. Schirmer/Mosel Verlag, München 2008, 296 Seiten, 249 Abbildungen, 49,80 Euro