Die flimmernde Fototapete

Kurz vorm 25. Geburtstag setzt RTL weiter auf allerlei Dokusoaps und Krawumms-Serien wie „Alarm für Cobra 11“ und die neue Daily „112 – Sie retten dein Leben“ – Bügelfernsehen vom Allerfeinsten

Inzwischen gefällt sich RTL in der Pose, „Lebenswirklichkeit“ zu „reflektieren“

VON CHRISTIAN BARTELS

Wäre das deutsche Privatfernsehen ein Märchen, die Rollen wären klar verteilt: Die Pechmarie ist die ProSiebenSat.1 AG (P7S1), mit der schon Leo Kirch pleite ging und an deren Geschäftsmodell derzeit die zweite Generation Finanzinvestoren herumdoktert, die Goldmarie sind RTL und seine Nebensender. Auch wenn die Inhalte sich stark ähneln, laufen und laufen die Sendungen nur im Controller-Fernsehen RTL – der Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen liegt stabil bei 15,5 Prozent.

Die Krise der deutschen Serien, mit denen die Privaten ihr Abendprogramm in den guten 90er-Jahren wesentlich bestritten haben (wobei RTL mit „Das Schloss am Wörthersee“ eine Programmfarbe in die Welt gesetzt hat, mit der heute die ARD riesige Sendeflächen füllt), trieb RTL auf die Spitze, als es „Die Anwälte“ nach nur einer Folge absetzte. Es nutzte die Gelegenheit, den Komplementärtrend zur US-Serie mit „Dr. House“ und „CSI“-Krimis umso voller auszukosten. Gelitten hat besonders P7S1; noch im Frühjahr quälte sich die zumindest im deutschen Fernsehen neuartige ProSieben-Serie „Unschuldig“ mehr schlecht als recht durch. Erst als RTL das nicht taufrische „Schokolade zum Frühstück“-Muster mit deutschen Arztserien kreuzte, kam der Erfolg. „Doctor’s Diary“ wird um zwei Staffeln verlängert.

Genauso selbstverständlich blieb die Gattung der Billig-Dailys von der Krise ausgenommen, die man an den kräftigen Blicken erkennt, die die Darsteller immer werfen müssen. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ läuft im 16. Jahr. Während der Sender aus 90-minütigen Einzelfilmen, die ihm in den 90ern mit Titeln wie „Die heilige Hure“ Schlagzeilen bescherten, aber in der Herstellung teuer sind und als Alleinstellungsmerkmal nicht mehr taugen, weithin ausgestiegen ist, werden andererseits Sendungen so steinalt, wie man es kaum für möglich hält: „Wer wird Millionär?“ wird Anfang September neun, die Actionserie „Alarm für Cobra 11“, die die Autobahn zum stupiden, aber schnellen Erzählprinzip umformt, läuft krisenfrei im 13. Jahr. Zu Hoffnungen, dass „Deutschland sucht den Superstar“ und „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ nicht auch ähnlich altern dürfen, besteht kein Anlass. Selbst wer wähnte, dass Formel-1-Rennen an Marktanteil verlören, wenn nicht immer der Deutsche gewinnt, wurde kaum bestätigt. Beziehungsweise zu wenig, als dass die Übertragungen für RTL unrentabel geworden wären.

Als Sendergruppe funktioniert der Komplex, der sich neuerdings „Mediengruppe RTL Deutschland“ nennt, so gut, wie es weder P7S1 noch die Öffentlich-Rechtlichen hinkriegen. Die Struktur ist kompliziert; Vox und n-tv gehören ganz dazu, Super RTL und RTL2 nur zum Teil. Trotzdem befruchten alle Sender einander und ganz besonders das Hauptprogramm. Selbst wenn sie einander zeitweilig Konkurrenz machen und Senderkreaturen wie Verona Pooth und Vera Int-Veen zugleich als „Engel im Einsatz“ und „Helfer mit Herz“ herumschicken. Es ist eine Folge dieser Überdosierung, dass es jetzt überall, und besonders auf RTL-Kanälen, vor Restauranttestern, Schuldnerberatern, Super-Nannies, Bauern-Verkupplerinnen sowie demnächst Jobcoaches und Hotelinspektoren nur so wimmelt – und dass sich dafür gar die Bezeichnungen „Dokusoap“ (als ob die Sendungen dokumentieren statt inszenieren würden) und „Reality“ (als ob sie mit Realität viel zu tun hätten) eingebürgert haben.

Inzwischen gefällt sich RTL in der Pose, „Lebenswirklichkeit“ zu „reflektieren“. Die Pose des Gegen-Tabus-Verstoßens hilft aber auch noch. Die hatte sich schon 2000 bewährt, als RTL die (in den Schoß von RTL 2 zurückgekehrte) Aufreger-Show „Big Brother“ ins Programm nahm und sich darüber gar Kurt Beck beschwerte. Nach derselben Masche gelangte gerade Brigitte Nielsens Schönheitsoperationsshow auf mehr als 20 Prozent Marktanteil.

Solche Dialektik setzt sich in den wortreichen Off-Kommentaren der Magazinsendungen fort, die immer zu einem Drittel mitfühlen und zu zwei Dritteln hämen, etwa wenn ein 255 Kilo schwerer Mann „schonungslos offen“ Einblicke in die Schwierigkeiten Dicker auf Reisen gewährt – diese Woche in „Explosiv“. Er jettet natürlich nach Mallorca, wo RTL seine Lebenswirklichkeit sowieso am liebsten einfängt. Gerade erst präsentierte die sagenhaft zählebige „Die 10“-Reihe die „verrücktesten Mallorca-Sänger“ – vor allem Gestalten aus DSDS, Dschungelcamp und sonstigen RTL-Programmen.

Im Januar 2009 begeht RTL seinen 25. Geburtstag. Den Prozess der Umwandlung des Fernsehens in ein Nebenbeimedium, den der für seine Prophezeiungen noch immer geschätzte Gründungschef Helmut Thoma voraussah („In 40 Jahren wird das Fernsehen die Tapete der Gegenwart sein“), hat es schon weit vorangetrieben: Was läuft, ist ziemlich egal, die Menschen sind derart daran gewöhnt, dass sie jedenfalls oft einschalten, sofern sie überhaupt je aus- oder weggeschaltet haben.

Am 25. August startet eine relativ spektakuläre RTL-Sendung: „112 – Sie retten dein Leben“ ist eine bizarre Kreuzung aus preiswerter, naturgemäß lang laufender Studio-Daily-Soap mit in Zeitlupe teuer ausschauender Unfall-Action à la „Cobra 11“: Autos, Krawumms, Lebenswirklichkeit und Knattermimen, die darauf vertrauen, dass das Daily-Publikum schauspielerische Topleistungen nicht verlangt. Sobald das erste „112“-Special auf Mallorca gedreht wird, wird RTL ganz nah bei sich sein.