Karadzic’ Erbe lastet auf Sarajevo

Während der Belagerung Sarajevos durch Karadžić und Mladić konnten jüdische Bürger die Stadt verlassen. Sie verhalfen auch vielen Muslimen zur Flucht. Ein Besuch bei der jüdischen Gemeinde und ein Gespräch, auch über den früheren Serbenführer

Rasiert und mit frisch geschnittenem Haar hat sich der frühere Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, am Donnerstag erstmals seit seiner Festnahme vor knapp zwei Wochen der Öffentlichkeit gezeigt. Vor dem Haager UN-Tribunal kündigte Karadžić an, er werde sich bei seinem Prozess selbst verteidigen und auf einen Anwalt verzichten. Das Gericht beschuldigt ihn unter anderem des Völkermords, der Verschwörung zum Völkermord sowie zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine Antwort auf die Frage des Richters nach seiner Schuld muss Karadžić binnen 30 Tagen übermitteln. Vor Gericht verwies Karadžić auf eine Absprache mit den USA, die ihm 1996 Straffreiheit gegen einen politischen Rückzug versprochen hätten. Karadžić beklagte auch, er sei bei seiner Verhaftung in Belgrad von Zivilisten, die er nicht kenne, entführt und an einem ihm unbekannten Ort festgehalten worden.

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

Natürlich ist Radovan Karadžić auch in Sarajevo noch allgegenwärtig. Die Zeitungen und Periodika suchen sich zu übertrumpfen, um dem neugierigen Publikum Geschichten über die Umstände der Verhaftung des ehemaligen Belagerers der Stadt aufzutischen. Karadžić ist quasi in aller Munde. Nur Eli Tauber, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Sarajevo, Publizist und Forscher, Leiter des Projekts zur „Untersuchung, Auffindung und Systematisierung historischen Materials über die jüdische Geschichte in Bosnien und Herzegowina“, mag nicht über Karadžić reden. „Über Radovan Karadžić spreche ich nicht, ich spreche überhaupt nicht über die politische Lage in Bosnien und Herzegowina“, sagt er am Telefon. Dennoch lädt er zum Gespräch ein.

Vor den Türen des jüdischen Zentrums und der Synagoge in Sarajevo stehen keine Polizisten. Die Türen sind offen. Der Portier schaut lediglich unwillig auf, weil er durch den Besucher bei der Lektüre der Zeitung gestört wird. „Eli Tauber sitzt im Garten mit den Amerikanern.“ Von einem Tisch umringt mit jungen Besuchern aus New York erhebt sich der Mittfünfziger. „In Zagreb und Belgrad hat die jüdische Gemeinde Polizeischutz, hier brauchen wir die nicht.“ Die Juden Sarajevos fühlten sich sicher in einer Stadt, in der 85 Prozent der Bewohner Muslime sind. „Wir sind in der Stadt integriert“, sprudelt es aus Eli Tauber heraus. „Ich habe kürzlich im Rahmen einer Kulturwoche die ‚neue sephardische Küche‘ vorgestellt. Das war ein Riesenerfolg.“ Vor dem Zweiten Weltkrieg stellten die Juden ein Viertel der Bevölkerung der Stadt. Heute zählt die Gemeinde noch rund 800 Mitglieder. Viele Juden verließen Sarajevo 1992, als der Belagerungsring durch Karadžić und Mladić geschlossen wurde.

Die Serben ließen die Juden aus der Stadt ziehen. Auch viele nichtjüdische Bewohner Sarajevos sind mit jüdischen Papieren aus der Stadt geflohen. „Ich war damals in Israel und habe natürlich meine Papiere auch zur Verfügung gestellt“, schmunzelt Eli Tauber. So flohen weit mehr Personen aus der Stadt, als es dort Juden gab. Männer wie der Vorsitzende der Gemeinde, Jakob Finci, blieben jedoch und halfen, die von jüdischen Organisationen gespendeten Hilfsgüter an die Bevölkerung ungeachtet der Religion zu verteilen. Das hat natürlich zu dem hohen Ansehen der jüdischen Gemeinde in Sarajevo beigetragen.

„Zufrieden können wir trotzdem nicht sein.“ Eli Tauber regt sich nun doch etwas auf. Nach dem Friedensabkommen von Dayton seien nur die sogenannten konstitutiven Nationen – Bosniaken, Serben und Kroaten – als staatstragende Nationen anerkannt worden. Die auf dem Abkommen beruhende Verfassung diskriminiere folglich die Minderheiten. So könne zum Beispiel Jakob Finci nicht in den Präsidentschaftsrat des Staates gewählt werden, dies sei den konstitutiven Bevölkerungsgruppen vorbehalten. Ein Verstoß gegen internationales Recht. Jakob Finci hat beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg Klage eingereicht, das Verfahren läuft noch. „Immerhin ist der Außenminister Bosnien und Herzegowinas, Sven Alkalaj, ein Jude“, sagt Tauber. Mit der Klage stellen die Juden Sarajevos die Verfassung nach Dayton und die Herrschaft der nationalistischen Parteien in Bosnien infrage. Die jüdische Gemeinde macht sich damit zum Motor einer Verfassungsdebatte, die politisch hoch brisant ist. „Bosnien und Herzegowina ist auch unser Staat“, betont Eli Tauber. Politische Statements will er allerdings nicht abgeben.

Und dann spricht er doch über Karadžić. Vor 30 Jahren arbeitete er mit Karadžić in einer Kommission über Erziehungsfragen zusammen. „Karadžić war damals sehr an diesem Problem interessiert, er hatte ja zwei Kinder.“ Nie hätte er sich vorstellen können, welche Rolle Karadžić später einmal spielen würde. Er sei nicht besonders auffällig gewesen. „Es gab überhaupt keinen Grund für diesen Krieg, denn alle Menschen lebten friedlich zusammen.“ Der Krieg habe das Land zerstört, er habe auch in seinem privaten Leben tiefe Spuren hinterlassen. „Unsere Familie wurde auseinandergerissen.“ Ein Sohn lebe jetzt in Israel, ein anderer in Spanien, seine Frau in den USA. „Ich habe wegen Karadžić hier in Sarajevo keine Familie mehr.“ Dann geht er zurück zu seinen Gästen. Ihnen will er die 500-jährige Geschichte der Juden in Sarajevo nahebringen.