Der Meister der Gebärdensprache

Er sprach mit dem Körper wie kein anderer: Gunter Trube war ein Star unter Gehörlosen nicht nur in Deutschland, der mit viel Humor für ihre Rechte kämpfte. Vor kurzem ist Gunter Trube im Alter von 47 Jahren unerwartet gestorben

Ohne anklagenden Gestus thematisierte Trube Isolation und Abgrenzung

VON WOLFGANG MÜLLER

Es waren ein Dutzend Musiker, die in der 25-Jahre-Geburtstagsshow der taz im April 2004 im Tempodrom auftraten und ihr speziell komponiertes Ständchen vortrugen: Musiker wie Sven Åke Johannson, die Rockband Mutter, Françoise Cactus mit Wollita bis hin zur Diseuse Cora Frost und ihrem Blumenchor. Für das gehörlose Publikum wurden alle Songs und Gespräche simultan von der Dolmetscherin Anna-Christina Mohos in Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzt. Für eines der Ständchen war das nicht nötig: Gebärdensprachperformer Gunter Trube hatte seines eigenhändig in Gebärden komponiert. Sein Beitrag handelte von einem Aschenputtel namens taz, das sich schließlich als schöne Prinzessin entpuppt.

Für die hörenden Zuschauer war die sechsminütige lautlose Darbietung freilich ungewohnt, obgleich diese Stille voller Bewegung, Kraft und Klang war. Ein Ständchen voller Poesie, aber eben nicht für die Ohren, sondern für alle visuellen Sinne, die im Körper erklingen. Der Berliner Künstler und Schauspieler Gunter Trube war ein gehörloser Aktivist, der bereits Anfang der 80er mit ungeheurer Energie die Mauer der streng voneinander isolierten Welten von Hörenden und Gehörlosen in Deutschland durchbrach. Unterstützt von seiner Mutter Helga Puttrich-Reignard, besuchte er mit sechzehn Jahren Workshops des Internationalen Visuellen Theaters in Hamburg und Paris. Daneben unterrichtete er Deutsche Gebärdensprache und war schließlich staatlich anerkannter Gebärdensprachdozent. Er kommunizierte offensiv mit Hörenden, was diesen gelegentlich mehr Schwierigkeiten zu bereiten schien als ihm selbst. Die Unsicherheiten und Ängste der hörenden Mehrheit gegenüber den Gehörlosen löste oder verringerte er auf seine humorvoll-offensive und selbstironische Art.

Ohne jeden anklagenden Gestus thematisierte Gunter Trube die Isolation und Abgrenzung, die viele Gehörlose durch die Unkenntnis der hörenden Mehrheit täglich erfahren. Dabei interessierte er sich sehr für Musik und ging gern zu Konzerten. So kam es, dass ich 1990 mit Gunter ein Interview über seine musikalischen Vorlieben für die taz führte und er 1994 maßgeblich am Entstehen des Hörspiels „unerhört/hörspiel“ für den Bayerischen Rundfunk beteiligt war. Unsere Sprecher bestanden ausschließlich aus Gehörlosen und Schwerhörigen, die in für Hörende ungewohnten Sprachmelodien und -rhythmen über Gehörlosenkultur sprachen.

Gunters Lieblingsband waren die Sex Pistols, Marilyn Monroe war eines seiner Idole. Natürlich wusste er, dass es die Vorstellungskraft vieler Hörender übersteigt, wenn sie erfahren, dass sich ein Gehörloser für Musik interessiert. Unter den irritierten Blicken des Tontechnikers wählte er 1980 im Tonstudio die schönsten Basstöne und Bassfrequenzen für die erste LP meiner Band Die Tödliche Doris aus, während sein gehörloser Bruder Rolf für uns Schlagzeug im Künstlerhaus Bethanien spielte. Auch hielt er 1992 die Eröffnungsrede für eine Ausstellung der Gruppe in der Bremerhavener Kunsthalle. Dem unvorbereiteten, die üblichen Ansprachen erwartenden Publikum blieb nichts anderes übrig, als den Vortrag auf den von Gunter verteilten Zetteln anschließend zu lesen. „Das lief eben genauso, wie wir es aus manchem Gehörlosengottesdienst kennen …“, kommentierte ironisch die Gehörlosenzeitschrift Das Zeichen.

Kein Wunder, dass Gunter über einen Artikel verärgert war, der sich auf das erstmals stattfindende Festival „Gehörlose Musik“ bezog, organisiert von den Freunden Guter Musik e. V. Hier, im Prater der Volksbühne, trafen sich im November 1998 erstmals gehörlose und hörende Komponisten, Künstler und Akteure. Ein Experiment auf Neuland. Während der gehörlose Leiter des Deutschen Gehörlosentheaters, Thomas Zander, später in einem taz-Interview in der dort stattgefundenen Transformation von Musik in Gebärden neue Möglichkeiten sah und eine noch neue, noch unbenannte Kunstform erblickte, schrieb eine hörende Autorin im Tagesspiegel von einer „Verarschung“ der Gehörlosen. Die Gehörlosen seien für sie bei dem Festival nur erkennbar gewesen, da sie „mit den Händen wedelten“, statt zu klatschen. Gunters trockener Kommentar: „Die hätte mich oder andere anwesende Gehörlose vielleicht mal ansprechen können.“ Es sei eben bezeichnend, dass Hörende in ihrer allzu menschlichen Betroffenheit leichter über Gehörlose reden würden als mit ihnen. Dem offensiven Gunter missfiel das, denn als zu schützendes Opfer hat er sich nie verstanden. Er kämpfte stattdessen engagiert über Jahre für die offizielle Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (DGS) als eigene, vollwertige Sprache, was erst 2002 durch rot-grünen Bundestagsbeschluss geschah.

Als Mark Ernestus, der spätere Kopf des Technolabels Hardwax, 1987 die Berliner Nachtbar Kumpelnest 3000 eröffnete, fragte mich dieser, seinen Mitkommilitonen von der Filmklasse der Kunsthochschule, wer mir noch aus dem Freundeskreis einfiele, den man hier einstellen könne. In der TV-Sendung „Sehen statt Hören“ revanchierte sich Gunter später für meine Empfehlung: Es sei ein „berühmter Rockmusiker namens Wolfgang Müller“ gewesen, der ihm diesen Job als Barkeeper vorgeschlagen hätte.

Vor allem in der Gehörlosenszene wurde nun unsere Band berühmt, und das Kumpelnest 3000 entwickelte sich in kürzester Zeit zum Treffpunkt der internationalen Gehörlosenszene. Nicht nur in dieser war Gunter ein Superstar. Durch sein starkes Kommunikationstalent zog er die unterschiedlichsten Menschen aus allen Bereichen an, von der Kabarettistin Desirée Nick bis hin zu Karl Lagerfeld. Letzter verpflichtete Gunter bei seiner „Kumpelnest 3000“-Fotosession mit Claudia Schiffer im Jahr 1992 sogleich mit: Als Drag-Queen, drapiert mit einem Neugeborenen namens Edda in seinen Armen.

An der Berliner Volksbühne trug Gunter Trube zwei Jahre später in der Show „Hormone des Mannes“ Gedichte in Gebärden vor. Jedes Gedicht war eigens für die Umsetzung in Gebärden geschrieben worden, von Musikerinnen wie Françoise Cactus und Künstlerinnen wie Sabina van der Linden.

Mit der Schweizer Fotografin Barbara Stauss entwarf er daraufhin die erste Aids-Broschüre für Gehörlose, in der er wechselweise als Krankenschwester oder Teufel gebärdensprachliche Aufklärung in HIV-Prävention gibt. Der Deutsche Gehörlosenbund verlieh Gunter Trube im Jahr 2001 schließlich seinen alljährlichen Kulturpreis.

Er zählte zu den Menschen, die niemanden langweilen, weil sie immer wieder auf’s Neue überraschen. Leider auch mit seinem völlig unerwarteten Tod am 29. Juni 2008 im Alter von 47 Jahren. Mit Gunter Trube verliert nicht nur die Gehörlosenszene, sondern auch sehr viele Hörende, die durch ihn zum ersten Mal mit der Gebärdensprachkultur in Kontakt kamen, einen wunderbaren, liebenswerten, überaus kreativen Menschen, einen einzigartigen Kämpfer für die Rechte der Gehörlosen und einen engagierten Vermittler zwischen den Welten von Hörenden und Gehörlosen.

Samstag, 26. Juli 2008, TV-Magazin „Sehen statt Hören“: „In Memoriam Gunter Trube“, Regie: Marco Lipski, Rona Meyendorf, 2008. Der Beitrag ist von 10.45 bis 11.15 Uhr im RBB, am Wochenende aber auch auf diversen anderen dritten Programmen zu sehen