Globalisierung gestalten

Der frühere Spiegel-Redakteur Harald Schumann und Christiane Grefe haben zusammen ein aufrüttelndes Buch zum Klimawandel und der sozialen Spaltung der Welt geschrieben

VON FELIX LEE

Es ist ein Jammer, dass der ehemalige Spiegel-Redakteur Harald Schumann nicht mehr für das Nachrichtenmagazin schreibt. Er verließ vor vier Jahren den Spiegel, nachdem der damalige Chefredakteur seine bereits fertig getippte Titelgeschichte über die Manipulation der Energiepolitik durch die Stromkonzerne aus politischen Gründen nicht drucken wollte. Wäre Schumann beim Spiegel geblieben – das einflussreiche Leitmedium hätte die Bedeutung der Windenergie vielleicht nicht ganz so gering eingeschätzt, wie es das dann in diversen Artikeln anschließend getan hat. Wahrscheinlich wäre auch in so manch einer Geschichte des Spiegels über China nicht mit so hetzerischen Begriffen wie „gelbe Gefahr“ oder „Angriffsstaat“ hantiert worden. Der Blick auf das aufstrebende China, die Energiekrise und die Globalisierung insgesamt wäre in Deutschland womöglich heute ein anderer.

Was im Spiegel in all den Jahren nicht zu lesen war, hat Schumann nun in einem über 400 Seiten dicken Wälzer verfasst. Zwölf Jahre nach seinem ersten Bestseller „Die Globalisierungsfalle“ hat er zusammen mit der Zeit-Journalistin Christiane Grefe eine aktuelle und faktenreiche Analyse zur Lage der Welt vorgelegt: „Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung“ heißt ihr Werk. Ihr Lagebericht ist alarmierend: Schon in seinem ersten Buch warnte Schumann vor einer falschen politischen Gestaltung der Globalisierung, bei der nur die Interessen der internationalen Unternehmen und ihrer Eigentümer beachtet werden. Eine Dekade später sind seine Befürchtungen bittere Realität geworden: Umfassend recherchiert, erschütternd zu lesen zeigen die Autoren auf, wie die große Mehrheit der Menschen zu Verlierern der Globalisierung geworden ist.

„Jahrzehntelang haben die Regierungen der westlichen Wohlstandsnationen die globale Integration vornehmlich durch bloße Liberalisierung des Wirtschaftsgeschehens vorangetrieben“, so die Autoren. Der Aufbau demokratisch kontrollierter Institutionen, die es erlaubt hätten, die Früchte der Globalisierung zum Nutzen aller einzusetzen, sei jedoch vernachlässigt worden. Die Reichtümer, die in der wachsenden globalen Arbeitsteilung hergestellt werden, würden nur bei den ohnehin schon Privilegierten ankommen. Zu den großen Problemen zählen Grefe und Schumann die Massenarmut, den Klimawandel und die zunehmende soziale Spaltung auch in den Industriestaaten. Die größte Gefahr jedoch sehen sie in der völlig ausufernden Finanzwirtschaft. Weltweit zocken gierige Renditejäger auf den Börsenparketten, entziehen sich der staatlichen Aufsicht und stiften zugunsten kurzfristiger Gewinne langfristiges Chaos. Wenn man weiß, dass man beim Zusammenbruch ohnehin vom Staat freigekauft werden wird, dann könne ja ruhig ein Risiko eingegangen werden, schreiben die Autoren und bemängeln bei den Bankmanagern den Verfall der kaufmännischen Moral. Im Fall der US-Investmentbank Bear Stearns war es 2007 genau so gekommen. Die Notenbank übernahm Papiere, die formal 60 Milliarden US-Dollar wert sind, aber niemand kaufen wollte. Das Risiko trug der Steuerzahler.

Zugleich zeigen Grefe und Schumann auf, dass die Suche nach dem Sündenbock in nationalstaatlichen Kategorien heute nicht mehr funktioniert. Alle Staaten der Welt seien in einem Maße miteinander verwoben wie noch nie zuvor in der Geschichte. Wenn ein US-Senator der chinesischen Regierung „illegale Währungsmanipulation“ vorwirft, weil Peking seinen Renminbi unterbewertet und damit die USA mit chinesischen Billigprodukten überschwemmt, vergesse er dabei, dass genau diese gigantischen chinesischen Exportüberschüsse die völlig überschuldeten US-Bürger finanzieren und damit die US-Wirtschaft am Laufen halten. Wenn Bundeskanzlerin Merkel die skrupellosen Arbeitsbedingungen in chinesischen Sweatshops anprangert und der Zentralregierung in Peking die Schuld gibt, dann berücksichtige sie dabei nicht, dass es auch deutsche Unternehmen sind, die mit all ihrer Macht eine Arbeitsverfassung zum Schutze der chinesischen Wanderarbeiter verhindern.

So dramatisch Grefe und Schumann die derzeitige Weltlage schildern – an Vorschlägen, wie eine „bessere Welt“ aussehen könnte, mangelt es ihnen nicht. Entschieden warnen sie vor Protektionismus. Im Gegenteil: In den globalen Problemen sehen sie die Chance, sie auch global anzugehen. Selbst der Klimawandel berge die Möglichkeit, miteinander anstatt gegeneinander zu agieren.

Sie plädieren für eine Weltgemeinschaft mit transparenten und fairen Regeln. Ausgerechnet in der zerstrittenen Europäischen Union sehen die Autoren ein Vorbild, wie eine solche Weltgemeinschaft aussehen könnte. „Softpower Europa“ habe bewiesen, dass es möglich ist, ökonomisch, politisch und gesellschaftlich so unterschiedliche Staaten wie Spanien oder Irland in die Gemeinschaft erfolgreich einzugliedern. Derzeit geschehe dies auch mit Teilen des ehemaligen Ostblocks. Ob die derzeitige EU, die vornehmlich ebenfalls von wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird, tatsächlich als Vorbild für die Welt taugt, sei dahingestellt. Womit die beiden Autoren recht haben: Ihr Ruf außerhalb Europas ist besser als auf dem alten Kontinent selbst.

Schon einmal hatte es die Welt mit den Chancen und Risiken der Globalisierung zu tun gehabt. Das war vor 100 Jahren. Die Chancen wurden damals nicht erkannt. Was folgte, waren Abschottung und Kriege. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Länder wieder zueinanderfanden. Heute steht die Welt vor einer ähnlichen Situation. Der globale Countdown läuft. Schumann und Grefe teilen mit, wie spät es ist – ein aufrüttelndes Werk.

Harald Schumann, Christiane Grefe: „Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 464 Seiten, 19,95 Euro