Patriarch und Söhne

Drei Generationen Titzenthaler: Das Oldenburger Landesmuseum rollt eine Familien-Seifenoper neu auf, die Jahrzehnte lang in der Geschichte der Fotografie verschollen war

VON ANNEDORE BEELTE

Man weiß nicht, ob der Blick mehr bewundernd oder mehr ängstlich ist, mit dem der Junge zu seinem Vater aufschaut. Papas Hand lastet schwer auf seinem Nacken, doch die Augen des zerzausten Patriarchen driften in die Ferne. Das Foto zeigt eine Vater-Sohn-Kiste und diverse Ausgeschlossene: die Mutter am anderen Bildrand; den älteren Sohn an der Tür, wie schon im Gehen, den Blick starr auf die Mutter geheftet, sein unförmiges Jackett und die alten Schuhe eine vielleicht kalkulierte Provokation in den großbürgerlichen Räumen.

Zeitgenossen wie Ibsen oder Freud, die in dunklen Familiengeheimnissen wühlten, hätten wohl leuchtende Augen bekommen beim Anblick dieses Familienfotos, das 1896 in Oldenburg entstand. Das Leuchten in den Augen bleibt nun aber den Kuratoren Doris Weiler-Streichsbier und Michael Stöneberg überlassen: Sie haben mit fast hundertjähriger Verspätung für die Wiederkehr des Verdrängten gesorgt und präsentieren ihre Funde jetzt im Oldenburger Schloss. Waldemar Titzenthaler nämlich, der angry young man auf dem Foto, hat es im Berlin der Zwischenkriegszeit zu einigem Ruhm gebracht: Er hielt die noch unzerstörte Stadt in Bildern fest, fotografierte Homestories und noble Interieurs für die Zeitschrift Die Dame, experimentierte mit Panorama-Ansichten. Der deutsch-österreichische Alpenverein benannte einen Wanderweg nach dem 1937 verstorbenen Naturliebhaber und Patrioten, bis man sich wegen seines Hangs zum Nationalismus und Antisemitismus einen neuen Namensgeber suchen musste.

Waldemar Titzenthaler stellte sich in seinen Memoiren als fotografisches Naturtalent dar – und erwähnte mit keinem Wort seinen Vater, der Hoffotograf in Oldenburg war und dem er vermutlich einiges verdankte. Erst Weiler-Streichsbier und Stöneberg stellten mit kriminalistischem Instinkt diese Verbindung her, von der nicht einmal die Nachkommen wussten. Dabei entdeckten sie eine ganze Fotografen-Dynastie: Der kleine Bruder Edgar, auf dem Familienfoto Papas Liebling, lernte im Atelier von Waldemar sein Handwerk. Doch auch die Brüder gingen bald getrennte Wege. Wieder gibt es ein sprechendes Bild: Diesmal ist Waldemar der Patriarch auf dem girlandenumwundenen Thron und Edgar, hinter ihm mit verschränkten Armen, blickt ostentativ in die andere Richtung.

Erst die nächste Generation hat den Fluch gebrochen: Edgar und sein Sohn Herloff arbeiteten Tür an Tür. Herloff benutzte sogar noch in den 1960ern die fünfzig Jahre alte Plattenkamera seines Vaters.

Die Ausstellung zeichnet eine Familien-Soap nach, die sich nur aus den Bildern und wenigen Archivalien rekonstruieren lässt. So vergnüglich es ist, sie sich von den Kuratoren erzählen zu lassen, so schwierig lässt sie sich offenbar in einer Ausstellung transportieren: Es verlangt eine Menge Einfühlungsvermögen vom Betrachter, aus den Autogrammkärtchen, die den jungen Franz Titzenthaler in seiner ersten Karriere als Schauspieler zeigen, oder den gestelzten Studioporträts, die er von der herzoglichen Familie schoß, die Persönlichkeit des geschäftstüchtigen Charmeurs herauszulesen. So einer suchte sich planmäßig den beschaulichen Standort Oldenburg aus, um sich den Titel des Hoffotografen zu angeln.

Dass sein Sohn Waldemar mit den ewig ungeputzten Schuhen, der lieber Gebäude als Menschen fotografierte, nicht gut mit Franz auskam, lässt sich unschwer schlussfolgern – wenn einem solche Details denn auffallen.

Hundert Jahre Familiengeschichte sind hier auch hundert Jahre Fotografiegeschichte. Man sieht einen frühen, reichlich unscharfen Schnappschuss von Kaiser Wilhelm, den der clevere Franz gleich nach Berlin sandte und dafür ein pompöses Dankschreiben erntete. Momentaufnahmen waren eher das Metier der nächsten Generation, das zeigt die Gegenüberstellung von zwei Denkmalsenthüllungen: geknipst von Franz, monumental inszeniert von Waldemar. „Sollte hier der Vater vom Sohn gelernt haben?“, fragt sich Doris Weiler-Streichsbier. Ebenso aufschlussreich ist es, die Postkartenidyllen, die Bruder Edgar im Dienst der „Staatlichen Bildstelle“ zu Tausenden anfertigte, mit dem fortschrittsgläubigen Enthusiasmus zu vergleichen, mit dem Herloff später die 60er-Jahre-Schlafstädte in Berlin in Szene setzte.

Die Ausstellung soll den Auftakt einer Reihe bilden, die das Schaffen von Vätern und Söhnen gegenüberstellt. Wo sind die Mütter und die Töchter? Immerhin gehörte die Fotografie zu den ersten Ausbildungsberufen, die auch Frauen offen standen. Auch Waldemars Frau Olga hat das Handwerk im Lette-Verein gelernt, der sich die Berufstätigkeit von Frauen auf die Fahnen geschrieben hatte. Doch im Atelier ihres Mannes verliert sich ihre Spur. „Sie hat bei ihm gearbeitet“, sagt Michael Stöneberg. „Aber als Fotografin ist sie nie in Erscheinung getreten.“

bis 21. 9. im Oldenburger Schloss; www.landesmuseum-oldenburg.niedersachsen.de