Eine Frau verschwindet

Sie fotografierte Asta Nielsen, Gottfried Benn und nackte Boxer. Im mondänen Atelier von Frieda Riess trafen sich Künstler und Tänzer, Diplomaten und Bankiers. Jetzt wird die Fotografin mit einer Retrospektive in der Berlinischen Galerie wiederentdeckt

VON ACHIM DRUCKS

Der Diktator als menschliches Wesen. Auf dem 1929 entstandenen Porträt wirkt Mussolini wie ein erfolgreicher Schriftsteller: hohe Stirn, nach innen gekehrter Blick, guter Anzug, die beringten Hände verströmen einen Hauch von Dekadenz. Noch keine Spur vom Duce, der sich später nur noch mit gerecktem Kinn und grimmigem Blick ablichten ließ. Ein großformatiger Abzug dieser Aufnahme hing noch 1943 – zusammen mit den anderen Bildern prominenter Zeitgenossen, die sie fotografiert hatte – in der Wohnung von Frieda Riess. Eine befremdliche Vorstellung: Die erfolgreichste Gesellschaftsfotografin der Weimarer Republik lebt gelähmt und vereinsamt in Paris, als Jüdin ständig von der Deportation bedroht – und Mussolini schmückt den Salon. Die Nazizeit überlebt „Die Riess“, wie sie in den Berliner Gazetten gerne genannt wurde. Doch dann verliert sich ihre Spur.

Trotz intensiver Recherchen konnten Marion Beckers und Elisabeth Moortgat vom Verborgenen Museum nicht das Sterbedatum der Fotografin ermitteln. Eine Frau ist verschwunden. Kein Nachlass, kaum persönliche Zeugnisse. Was es noch gibt, sind ihre beeindruckenden Arbeiten. Die kann man jetzt in der Berlinischen Galerie entdecken, wo das Verborgene Museum zu Gast ist. Eine Institution, die schon mit Ausstellungen zu Lotte Jacobi oder Yva vergessene Fotografinnen wiederentdeckt hat.

Rund 100 Vintage Prints sind zu sehen, fast ausschließlich Porträts. Die Ausstellung gleicht einem „Who’s who“ der Berliner Literatur- und Kunstszene der Zwanzigerjahre: Klaus Mann gibt den Dandy mit leicht geöffneten Lippen. Die Bildhauerin Renée Sintenis verkörpert die androgyne Garçonne, Claire Goll die intellektuelle Bohème, die sich im Romanischen Café am Kurfürstendamm trifft. In Sichtweite liegt das Atelier der Riess, das sie im Kriegsjahr 1917 gegründet hat. Vor der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau 1919 ein mutiger Schritt für eine unverheiratete 27-Jährige. Der Standort im mondänen Westen ist gut gewählt. Wer modern sein will, geht an den Ku’damm.

Ihre Bildsprache allerdings ist eher konservativ. In der Tradition des Piktoralismus setzt Riess auf malerische Weichzeichnereffekte und feine Grauabstufungen, peppt manche Bilder aber auch mit expressionistisch anmutenden Hintergründen auf. Durch geschickte Drehungen des Körpers und dezente Unter- oder Aufsichten verleiht sie ihren Modellen eine lebendige Präsenz. Schnell wird sie zu einer der gefragtesten Fotografinnen der Stadt. Keine Experimente, lautet das Erfolgsrezept. Schön wieder erkennbar und nicht zu steif – so wünscht sich die Kundschaft aus der gehobenen Berliner Gesellschaft ihre Porträts. Und sie bekommt noch mehr. „Immer hat sie das wirkliche Wesen des im Augenblicksbild fixierten Menschen festgehalten“, so der Kritiker Kurth Pinthus.

Das empfindet auch Max Herrmann-Neiße, den Riess 1922 porträtiert. Sie zeigt den Schriftsteller in Denkerpose, die rechte Hand stützt den Kopf, skeptisch mustert er den Betrachter durch die runde Brille. Eine ihrer stärksten Aufnahmen. Neiße ist kleinwüchsig, auf dem buckeligen Körper sitzt ein übergroßer Kopf. Seine markante Physiognomie macht ihn für Maler wie George Grosz zum beliebten Modell, wobei sie stets Neißes groteske Erscheinung betonen. Darauf verzichtet Riess. Sie zeigt den Menschen in all seiner Verletzlichkeit. „Nicht nur meine charakteristische Körperhaltung ist haarscharf erfasst, sondern mit ihr das Belangvollste meiner Gefühlssituation. Wer dieses Bild sah, wird mich erkennen.“

Nicht nur Neiße besitzt die „veraltete Überzeugung, ein Porträt soll ähnlich sein“. Auch Alfred Flechtheim, einer der führenden Kunsthändler Berlins, ist dieser Ansicht. In seiner Galerie, wo er sonst mit Picasso oder Braque die Avantgarde seiner Zeit präsentiert, zeigt er 1925 eine Ausstellung der Riess. Die Schau mit 177 ihrer Porträts ist eine frühe Anerkennung der Fotografie als Kunst und markiert den endgültigen Aufstieg der Kaufmannstochter in die Berliner Gesellschaft. Neben der Kunst und dem Spaß am Gesellschaftsleben – die Teepartys der Riess sind so legendär wie Flechtheims Bälle –, verbindet beide ein Faible fürs Boxen. Er fördert Max Schmeling, sie macht Aktaufnahmen der muskulösen Sportler. Mit der Veröffentlichung eines Schnappschusses in Flechtheims Zeitschrift Querschnitt kommt es zum Bruch. Sie ist der Meinung, das Foto, das sie lachend zwischen drei halbnackten Boxern zeigt, habe die Chancen auf eine Ehe mit ihrem langjährigen Geliebten, dem französischen Botschafter in Berlin, zerstört. Trotzdem löst sie ihr Atelier auf und folgt dem Diplomaten 1932 nach Paris. Dort zieht sie sich ins Privatleben zurück. Ob die Riess in Paris jemals fotografiert hat, ist nicht bekannt.

„Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon in Berlin 1918–1932“: Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Katalog (Wasmuth Verlag) 35 €