Hunderte Versionen vom selben heiligen Text

Septuaginta-Forscher versuchen, die erste griechische Übersetzung des Alten Testaments zu rekonstruieren. Statt wie geplant 30 Jahre dauert das Projekt jetzt schon mehr als 100. Immer wieder werden neue Schriften gefunden und lesbar gemacht

Hundert Jahre und noch immer kein Ende: Das Forschungsprojekt „Septuaginta-Edition“ an der Göttinger Akademie der Wissenschaften hat schon Generationen von Religionswissenschaftlern, Historikern und Altphilologen aus aller Welt zur Verzweiflung getrieben. Sie alle waren und sind damit beschäftigt, die ursprüngliche Fassung der griechischen Übersetzung des Alten Testaments zu rekonstruieren – und damit der ältesten Bibelübersetzung überhaupt. Die Mühe lohne sich aber, sagen die Beteiligten. Denn man habe es mit einem für das Judentum und das Christentum gleichermaßen heiligen Text und damit einem Grundlagendokument der Kulturgeschichte zu tun.

Nach der Aristeas-Legende übertrugen im 3. vorchristlichen Jahrhundert 72 jüdische Gelehrte die hebräischen heiligen Schriften, den Grundstock des Alten Testaments, innerhalb von 72 Tagen ins Griechische. Weil sich „Zweiundsiebzig“ aber nicht so flüssig anhörte wie „Siebzig“, bekam das Werk den Namen „Septuaginta“ (lat.: siebzig). Damals konnten immer weniger Menschen Hebräisch verstehen, Griechisch war die Weltsprache.

In Wirklichkeit, sagt der Göttinger Theologie-Professor und Projektleiter Reinhard Kratz, wisse niemand genau, wann und von wem der Septuaginta-Text niedergeschrieben wurde. Statt 72 Tage dauerte das Unterfangen wohl eher Jahrhunderte – für die Antike eine „irrsinnige Übersetzungsarbeit“, sagt Kratz. Denn kaum hatten die alten Gelehrten einen Teil des hebräischen Textes ins Griechische übertragen, kamen andere Gelehrte, die es besser zu wissen glaubten und die Fassung überarbeiteten.

Rund 2.000 griechische Handschriften, die den Text der Septuaginta überliefern, sind bisher bekannt geworden. Immer wieder tauchen neue Funde auf. Auch in den 1947 am Toten Meer entdeckten Pergament-Rollen der alten Höhlensiedlung Qumran befanden sich Septuaginta-Texte. Erst vor zwei Jahren bestätigte die Akademie der Wissenschaften den Fund einer weiteren griechischen Bibelhandschrift. Bei den Fragmenten aus der Turiner Nationalbibliothek handelte es sich um Passagen aus den „Sprüchen“, den „Predigern“ und „Hiob“.

Ein Kopist und Lehrer in Konstantinopel hatte die Schrift vor rund 600 Jahren mit einer byzantinischen Grammatik überschrieben. Von dem Werk existieren nur noch verkohlte Papierklumpen, weil das ursprüngliche Buch aus Pergament im Jahr 1904 Opfer eines Brandes wurde. Italienischen Experten ist es mit einem technischen Verfahren aber gelungen, Seiten aus dem Pergamentklumpen zu lösen und zu fotografieren.

Als Pioniere der Septuaginta-Forschung gelten die Göttinger Alttestamentler Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und Rudolf Smend (1851 – 1913). Sie beantragten 1907 beim „Preußischen Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten“ Geld für das Projekt. Ein Jahr später konnten sie auch dank der Unterstützung durch eine Gruppe prominenter Göttinger Gelehrter mit der Arbeit beginnen.

Wie wenig Rahlfs damals ahnte, was für ein Mammutprojekt er da angestoßen hatte, lässt sich einer Bemerkung in der von ihm verfassten Denkschrift an das Ministerium aus dem Jahre 1907 entnehmen. „Die Dauer des Unternehmens schätze ich auf 30 Jahre“, schrieb er darin.

Zunächst versuchte Rahlfs herauszufinden, wo sich welche Septuaginta-Handschrift befanden. Dazu führte er Korrespondenzen mit Kollegen in der der ganzen Welt, reiste in unzählige Bibliotheken, fotografierte dort die Texte und schrieb sie per Hand ab. Eine enorme Leistung, wie der Theologe Bernhard Neuschäfer urteilt, der seit fünf Jahren in vorderster Reihe im Septuaginta-Projekt mitarbeitet. Rahlfs habe in Bibliotheken „so gut wie nichts“ übersehen.

Die ursprüngliche Übersetzung wieder freizulegen, komme einer archäologischen oder sogar detektivischen Arbeit gleich, sagt Neuschäfer. Ihren ursprünglichen Anspruch, die Übersetzung komplett zu rekonstruieren, haben die Forscher längst relativiert. Neuschäfer spricht deshalb lieber von einer „so vollständig wie möglichen Erfassung der gesamten griechischen handschriftlichen Überlieferung“.

Die Göttinger Septuaginta-Arbeitsstelle verfügt inzwischen über eine einzigartige Sammlung von Fotografien, Mikrofilmen und digitalisierten Fassungen der griechischen Handschriften. 23 Bände der Septuaginta-Edition sind schon erschienen, rund zwei Drittel der geplanten Gesamtausgabe. 2015 soll das Projekt abgeschlossen sein.

Durch die ständige Bewegung in der Textarbeit an der Septuaginta lässt sich Projektleiter Kratz nicht entmutigen, er findet sogar gerade das „faszinierend“. Die immerwährende Frage „Was ist eigentlich der heilige Text?“ verhindert seiner Ansicht nach „eine Buchstabengläubigkeit und wehrt jeglichem Fundamentalismus“. REIMAR PAUL