Sehnsucht nach Erlösung

Obwohl Moriz Melzer die Avantgarde der Malerei im Berlin der 20er-Jahre mitgeprägt hat, war er lange vergessen. Im Kulturforum am Wannsee kann man seinem Traum vom neuen Paradies und der Auslöschung des Einzelnen wiederbegegnen

VON GABRIELE MAYER

Erst wurde Moriz Melzer von den Nazis als „Kulturbolschewist“ beschimpft, später, in der Nachkriegszeit, gründlich vergessen. Moriz Melzer war Mitbegründer der Berliner „Neuen Secession“ (1910) und der „Novembergruppe“ (1918). Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg entdeckte nun sein Hauptwerk aus den Jahren zwischen 1907 und 1927 wieder und es ist eine wirkliche Trouvaille!

Melzer, der in den Jahren nach 1900 im „neuen Weimar“ des Harry Graf Kessler studierte, sah sich selbst zwar als traditionsbewussten Außenseiter mit einer Vorliebe für Antike, Renaissance und die großen Malerfürsten des 19. Jahrhunderts. Er war aber kein Unzeitgemäßer, sondern verkörperte wie kaum ein anderer die Ambivalenz der Avantgarden. Zwei Jahrzehnte lang, von 1907 bis 1927, blieb er durchlässig für Stimmungen und Stile seiner Zeit, von Spätimpressionismus, Symbolismus und Jugendstil über den expressiven Naturalismus der Kriegsjahre bis zu den heftig splitternden, kubofuturistischen Stadt- und Naturdarstellungen der Weimarer Zeit. An seinen Arbeiten lassen sich Glanz und Elend der künstlerischen und lebensreformerischen Aufbruchbewegungen der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts studieren.

Das Kollektiv ruft

In den Bildern Melzers, die das Kulturforum der Villa Thiede aus Regensburg übernommen und damit glücklich nach Berlin gebracht hat, kündigt sich schon der Zivilisationsbruch des Zeitalters der Extreme an: Die Tendenz zur Auslöschung des Ich ist nicht zu übersehen, das Pathos der Körperinszenierungen unheimlich. Da irrlichtern in teilweise archaisierenden Tableaus die kommenden Verwüstungen: Revolution, Weltkrieg, Massenmord. Der Künstler als Seismograph. Als einer, der wittert, was „an der Zeit“ ist.

Melzer war kein Nazi, auch kein Kommunist. Selbst in der „Novembergruppe“ hielt er Abstand zur Tagespolitik. Aber in den großen Sehnsüchten, in den metaphysischen Fundamenten seiner Malerei spürt man die Nähe zu den kollektivistischen Bewegungen. Er verabschiedet sich vom einsamen Ich, er feiert und beschwört die Daseinsmächte.

In den frühen Akten und Strandszenen verschwindet das Subjekt noch auf scheinbar harmlose Art: Junge Frauen verschmelzen mit der Umgebung, werden Welle oder Pflanze. Wie im Jugendstil wird der Körper zum Ornament. Der Traum vom neuen Paradies ist bereits in diesen Jahren verstörend, jenseits der Zivilisation lockt ein erstarrtes Arkadien, der Einzelne wird wie bei Maurice Denis Teil einer fragwürdigen Idylle.

Daneben gibt es schon um 1908 vitalistische Szenen im Cinemascope-Format: „Kampf um die Fahne“ zeigt mächtige Körper, nackt und prall, die sich nicht nur der Fahne, sondern auch der Frauen bemächtigen. Selbst Badende und Tanzende stehen bei Melzer nie für sich, wiedererkennbar, sondern werden von der Gruppe verschlungen. Spätestens in den „Fliehenden“ (1913) erscheint das Subjekt nur noch dichtgedrängt, in seriellen Arrangements. Der Wille des Einzelnen zählt nur noch, sofern er Teil eines, im Wortsinn, „gleichlaufenden“ Kollektivs ist.

Was diese Szenen von den späteren realen Paraden unterscheidet, ist ein Rest an existenzieller Unruhe und Verwirrung. Die sind freilich Problem und Symptom: In Melzers Werk zeigen sich, drastischer noch als bei seinen Zeitgenossen, die prekären Impulse der Avantgarden spätestens seit dem Fin de Siècle: eine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Erlösung, nach einem unentfremdeten Dasein und dem „anderen Zustand“.

Die bürgerliche Welt, diese kalte Existenz, in der sich alles um Geld und Rechtssicherheit dreht, erscheint als unerträgliche Last. Die neue Lebensphilosophie in der Nietzsche-Nachfolge, die den europäischen Nihilismus überwinden soll, will überhaupt Schluss machen mit dem egozentrischen Individualismus. Die kollektiven Mächte locken. Der Untergang schreckt noch nicht, er wird eher erotisch aufgeladen.

Das neue, starke, schöpferische Dasein in Einklang mit den anderen und der Natur setzt, in der Philosophie Nietzsches genauso wie später in Schumpeters Ökonomie, die Zerstörung voraus: die Bereitschaft zur Vernichtung all dessen, was „nichts mehr taugt“, was abweicht, was alt, unproduktiv, krank, problematisch, „eigen“ ist. Das Vorspiel zur Liquidierung des Subjekts, die später in den totalitären Systemen politische Praxis und soziale Routine wurde, wirkt bei den Avantgarden noch scheinbar harmlos: als Wille zur „Reinheit“ in der Kunst wie im Leben, als Sehnsucht nach dem Absoluten, dem das Relative, das Beschränkte und „Beschmutzte“ nichts gilt.

Moriz Melzer im Kulturforum Villa Thiede Am Großen Wannsee 4, täglich außer Montag 11–18 Uhr, Katalog 25 €, bis 27. Juli