„Ich achte jeden Menschen“

Heute beginnt in Bremen das umstrittene Christival. Der Vorsitzende Roland Werner erklärt, dass er Homosexuelle nicht pauschal als gestört bezeichnet und wie er den Stress aus dem Wort Mission nehmen will

ROLAND WERNER, Jahrgang 1957, Sprachwissenschaftler und Theologe, ist unter anderem Vorsitzender des Christival e. V., Mitglied des Leitungskreises der Lausanner Bewegung Deutschland und der Offensive Junger Christen, Vorstandsmitglied des Jerusalemvereins im Berliner Missionswerk und der Evangeliumsgemeinschaft Mittlerer Osten in Wiesbaden.

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Werner, gibt es ein Thema, über das Sie nicht sprechen wollen?

Roland Werner: Nein, eigentlich nicht.

Puh, ich dacht’ schon: Übers Homo-Heilerseminar …

…es war kein Homo-Heilerseminar. Das ist eine falsche Bezeichnung, die die Sache überhaupt nicht trifft.

Was denn sonst?

Es war der Versuch, einen seelsorglichen Freiraum für Menschen zu schaffen, die über dieses Thema sprechen wollen. Als wir gemerkt haben: Das wird in dieser Atmosphäre der öffentlichen Kritik nicht möglich sein, hat die Offensive Junger Christen in Absprache mit uns sich dann entschlossen, das Seminar abzusagen.

Laut Staatssekretär Hermann Kues erfolgte die Absage auf Intervention der Familienministerin…

… da gehen die Wahrnehmungen auseinander. Ich glaube, dass das parallele Prozesse waren. Schon am 9. Januar hat mich die Offensive Junger Christen wissen lassen, dass sie das Seminar absagt. Und an diesem Tag haben wir das auch in einer Presseerklärung kundgetan.

Nun könnte man sagen: Okay, Thema erledigt. Ist es aber nicht: Es gibt Gegendemos, Kundgebungen, Diskussionen. Wundert Sie das?

Ich habe schon den Eindruck, dass das abgesagte Seminar zum Anlass genommen wird, alle möglichen Positionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das respektiere ich. Jeder kann seine Überzeugung kundtun. So massiv, wie das jetzt zu werden scheint, habe ich das nicht erwartet. Ich finde das auch etwas überzogen. Aber ich hoffe, dass Christivaller und Demonstrierende Ebenen des Gesprächs finden. Das wäre mir sehr wichtig.

Und Ihre Haltung? In Ihrem letzten Buch zum Thema schreiben Sie 1993: „Homosexuelle Gefühle sind […] der Versuch, eine Persönlichkeitsstörung zu überwinden“. Gilt das noch?

So steht das nicht in meinem Buch. Ich sehe das ganze Thema sehr differenziert. Weil es hier um menschliche Themen geht, um Themen der Identität. Die Beschäftigung mit der Frage nach lebensweltlichen Alternativen bedeutet nicht, dass ich mich oder dass sich das Christival gegen diese Menschen stellt. Das möchte ich zurückweisen. Ich achte jeden Menschen, ich respektiere auch jeden homosexuell lebenden Menschen …

… auch wenn die für Sie persönlichkeitsgestört sind?

Nein, das wird mir unterstellt, dass ich das gesagt habe. Ich habe damals versucht, etwas aufzunehmen, was auch in der Psychotherapie, in der Sexualwissenschaft diskutiert wird, nämlich die Entstehungsbedingungen sexueller Identität. Das Anliegen dieser Veröffentlichung – wie gesagt: sie liegt schon 15 Jahre zurück – war, von meiner christlichen Überzeugung her Antworten zu formulieren auf Fragen, die mir in Gesprächen und seelsorgerlichen Anfragen begegneten, aufgrund der gemeinsamen Überzeugungen der christlichen Kirchen. Aber ich maße mir nicht an, Menschen pauschal als gestört zu bezeichnen. Das war weder damals die Absicht. Noch ist sie das heute.

Die Christival-Veranstaltungen sind Seminare. Auf den Bildern sieht man: Frontalunterricht. Wird da offen diskutiert?

Wir haben jeden Morgen Wortwechsel-Gottesdienste. Da ist Zeit für Kleingruppen-Diskussionen über die jeweiligen Bibeltexte eingeplant. So weit ich das sehe, sind auch die meisten Seminare sehr wohl dialogisch aufgebaut. Nur, bei manchen haben sich mehrere 100 Leute angemeldet. Das ist natürlich eher in einem Vortrag zu bewältigen. Außerdem gibt es viele Foren und interaktive Workshops.

Das Christival ist sehr missionarisch. Sie wollen an Haustüren und in Supermarktschlangen von Jesus erzählen. Das polarisiert.

Wir machen verschiedenste Aktionen, auch Blutspenden und Aufräumaktionen. Ich würde mal ein bisschen versuchen, den Stress aus dem Wort Mission herauszunehmen.

Historisch betrachtet ist die Skepsis verständlich …

Ja. Dennoch ist es natürlich so, dass die evangelische Kirche deutlich macht, dass Kirche und Mission untrennbar zusammengehören. „Mission“ heißt Sendung. Die Frage ist eben, wie man das füllt – so wie es teilweise in Lateinamerika passiert ist, mit Zwang. Oder so, wie es von der Bibel her verstanden werden will – und wie ich’s auch gerne verstehen möchte, als Einladung zum Glauben und Ins-Gespräch-Kommen über das, wovon wir überzeugt sind. In diesem Sinne macht jede Zeitung jeden Tag Mission.

Die rund 230 Veranstaltungen des Christivals führt die entsprechende Homepage auf. Fürs Kontrastprogramm sorgt das „Bündnis für Freiheit und Vielfalt“. Das Warm-up hat es mit einem Info-Abend am Montag hinter sich gebracht. Es folgen: „Take back the night“ – Demo gegen den sexistischen Normalzustand, 20 Uhr, Schlachthof. „Auf Teufel komm raus“ – Tanz in den Mai, 21 Uhr, JH Buchtstraße. „Frauen / Lesben Walpurgisnacht-Party“, 22 Uhr, Friedensgde. – jeweils 30. 4. „Risiken und Nebenwirkungen evangelikaler Homophobie“, Film mit Diskussion, 1. Mai: 10.30, 14.30 & 17 Uhr / 2. Mai: 10.30, 16.30 & 20 Uhr / 3. Mai 10.30 & 12.30 Uhr, Cafe Kweer, Körner-Str. 1. Kundgebung gegen christl. Fundamentalismus, 3. Mai, 14 Uhr, Domshof Infotische des Bündnisses: 30. 4., 17–20 Uhr, Bahnhofsvorplatz, 2. 5. 17–20 Uhr sowie 3. 5., 13–19 Uhr, Neptunbrunnen taz

Bloß: Die kaufe ich – oder nicht. Aber in der Supermarktschlange sitze ich fest. Und Haustürgeschäfte … ?!

Haustürgeschäfte wird es nicht geben. Die Christivaller werden den Bremern ein Magazin als Geschenk überreichen. Ich denke, dass die BremerInnen damit souverän umgehen. Und ich schätze, auch die Christivaller werden nicht diesem Horror-Bild entsprechen. Die werden freundlich und dialogisch auftreten. Wo jemand sagt, ich möchte nicht darüber reden, werden die höflich sagen: Danke, und noch ein schönen Tag. Und das war’s dann.

Die theologische Basis ist die Lausanner Verpflichtung. Die impliziert Judenmission. Sagen Sie Ja zur Judenmission?

Die Lausanner Verpflichtung betont die soziale Verantwortung der Christen und auch den Auftrag zum Weitertragen des Evangeliums. Den Begriff ‚Judenmission‘ finde ich persönlich überhaupt nicht hilfreich. Er kommt dort auch nicht vor. Ich denke, dass wir als Deutsche, auch aufgrund unserer furchtbaren Geschichte, da eher vorsichtig sein sollten. Ich persönlich bin in der Judenmission überhaupt nicht engagiert. Und das ist auch kein Thema beim Christival.

Ja sitzen Sie denn als stiller Widerständler im Leitungskreis der ‚Lausanner Bewegung‘? Die fordert, das Evangelium „den Juden zuerst“ zu bringen!

Das ist ja ein Bibelzitat aus dem Römerbrief: Die gute Nachricht gilt allen Menschen, den Juden zuerst, und dann auch den Nichtjuden.

In der Bibel stehen viele schreckliche Sachen: Das Johannes-Evangelium nennt die Juden „Kinder des Teufels“ …

Das ist ja interessant, dass Sie das Johannes-Evangelium erwähnen. Wir haben das Johannes-Evangelium dieses Mal auch als Grundlage des Christivals. Ich habe es selbst in den letzten Monaten neu übersetzt, diesen Text sollen alle TeilnehmerInnen bekommen. Ich glaube, dass das so, wie Sie das zitieren, nicht dem entspricht, was Jesus sagt. Er ist ja in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Pharisäern, die ihn ablehnen.

Aber das bleibt doch ein schrecklicher Satz!

So steht er ja da gar nicht.

Sondern?

Schauen Sie in Johannes 8, das ist ein sehr langer Dialog, wo es um die Frage, wie man das Gesetz richtig auslegt, geht – und die Aberkennung der Messiaswürde für Jesus. Und darauf reagiert er.

Sie plädieren in „Faszination Jesus“ für eine relativ wörtliche Lektüre der Evangelien …

… da möchte ich ein bisschen abwehren. Ich habe kein fundamentalistisches Bibelverständnis. Sondern ein historisches. Ich werbe allerdings dafür – und das ist ein Trend in der neutestamentlichen Wissenschaft – mehr Vertrauen in die historische Faktizität zu legen. Das ist kein Winkelfundamentalismus. Mir geht es darum, Mut zu machen, statt diese platte Abwehr an den Tag zu legen nach dem Motto: ‚Das sind ja alles Märchen‘. Inzwischen hat man auch in der Theologie wieder ein positiveres Verhältnis zu der Geschichtlichkeit des Neuen Testaments.

Theologie ist ein Wettstreit von Lesarten. Den schärfsten Gegensatz zum evangelikalen Bibelverständnis bildet derzeit das des Göttinger Theologen Gerd Lüdemann. Schon 1998 legte der in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Der große Betrug“ darüber „Rechenschaft“ ab, warum er „einen Rückgang auf die Verkündigung Jesu als Begründung des christlichen Glaubens für illegitim“ hält. Dort findet sich auch eine Interpretation von Joh. 8,37- 44:

„[…] In dem vorliegenden Text werden die ungläubigen Juden ausdrücklich als Teufelskinder bzw. Teufelssöhne bezeichnet. Die Auseinandersetzung zwischen den Christen hinter dem Johannes-Evangelium und den ungläubigen Juden treibt einem Höhepunkt zu, der kaum noch zu überbieten ist. Zweifellos geht die Schärfe der Polemik darauf zurück, dass Christen des johanneischen Gemeindeverbandes und ungläubige Juden aneinandergeraten sind. Insofern handelt es sich hier um zeitbedingte Aussagen. Sie sind freilich kaum rhetorischer Natur oder gar Sprachspiele. Der Verfasser meint zweifellos das, was er schreibt, und schreibt das, was er meint. Der Text ist also ein bedauerlicher vorläufiger Höhepunkt der antijüdischen Attacken im frühen Christentum. Jesus hat die ihm […] zugeschriebenen Worte nicht gesprochen. Sie sind vollständig aus der Situation der Gemeinde herzuleiten, auf die das Johannes-Evangelium zurückgeht, und damit unecht.“ (aus: Gerd Lüdemann, „Der große Betrug“, zu Klampen-Verlag, Lüneburg 1998, S.44f)

Die taz hat Roland Werner um eine Gegen-Darstellung gebeten: „Gerd Lüdemanns Aussagen basieren auf der veralteten Annahme einer sehr späten Entstehung des Johannesevangeliums. […] Heute geht man zunehmend von einer früheren Datierung und einer jüdischen Verfasserschaft aus (u. a. Bauckham, Berger). Wenn das Evangelium aber von Juden geschrieben wurde, dann ist es unpassend, es als „antijüdisch“ zu bezeichnen. […] Die Trennung zwischen „Christen“ und „Juden“ zementiert sich erst ab dem zweiten Drittel des zweiten Jahrhunderts. Der Begriff „iudaioi“ hat zunächst eine geographische Bedeutung, aber auch gesellschaftliche („Die führenden Repräsentanten des Judentums“). Die Polemik von Jesus/Johannes richtet sich also gegen die kleine, mächtige […] Führungsschicht. Es ist das „Aufbegehren“ einer machtlosen, aber volksnahen „Randgruppe“ gegen die Mächtigen im eigenen System. Der Ausdruck: „den Teufel zum Vater haben“ war im jüdischen Kontext eine gebräuchliche polemische Formel. Das zeigen […] Texte aus Qumran, in denen die Gegner als „Söhne Belials“ bezeichnet werden, aber auch der jüdische Lehrer Dosa ben Harkinas, der seinen eigenen Bruder […] als „Erstgeborenen des Teufels“ bezeichnet. […] So ist also gerade diese angeblich „anti-jüdische“ Aussage Jesu ein wichtiger Beleg dafür, dass Jesus und Johannes innerhalb der jüdischen Lehr-Tradition stehen. Dies […] als Polemik gegen das Johannesevangelium zu verwenden ist historisch nicht redlich.“

taz

Der Missionsbefehl aus dem Matthäus-Evangelium gilt historisch-kritischen Lesern als sehr zweifelhaft …

… auch die historisch-kritische Schule ist kein monolithischer Block.

Das habe ich nicht behauptet. Es ist aber schwierig, sich darauf zu berufen, um problematische Haltungen wie die Mission …

Ich glaube, dass es einen Grund-Impetus des Neuen Testaments gibt, nämlich, dass Gottes Liebe allen Menschen gilt und sie davon erfahren sollen. Das hängt nicht an der einen Stelle im Matthäusevangelium. Ein Grund-Impetus der christlichen Kirche ist, dass sie eine missionarische Bewegung ist. Das ist einfach so. Ich fänd’s auch schade, wenn es nicht so wäre. Für mich ist Mission kein angstbesetzter Begriff. Für mich bedeutet Mission etwas Einladendes, Dialogisches, wo der andere ernst genommen wird. Es ist ein Aussprechen und In-den-Raum-Setzen von Überzeugungen. In der Hoffnung, dass andere sich dem anschließen können.

Aber?

Die Frage ist immer, wie ich diese Mission mache. Und da gebe ich Ihnen gerne zu, dass es da immer wieder auch Verfehlungen gab.

Freuen Sie sich eigentlich noch immer aufs Christival?

Ich freue mich noch immer aufs Christival. Ich lasse mir das auch nicht nehmen. Ich glaube, dass viele überrascht werden, dass diese angeblich so komischen Leute, die da nach Bremen kommen, in Wirklichkeit ganz nette Zeitgenossen sind. Wenn das dabei rüberkommt – dafür wäre ich schon mal sehr dankbar.