Die geheime Staatsgewalt

Daniele Ganser enthüllt in seinem gründlich recherchierten Buch die verdeckten Operationen der „Nato-Geheimarmeen in Europa“. Dabei zeigt er auch, wie sie in blutige Terroranschläge verwickelt waren

VON RAUL ZELIK

Es kommt nicht gerade häufig vor, dass sich die US-Regierung genötigt sieht, auf eine wissenschaftliche Studie aus Europa mit einem Dementi zu reagieren. Doch bei Daniele Gansers mittlerweile in acht Sprachen vorliegendem Buch über „Nato-Geheimarmeen“ ist genau das geschehen. Das Armeehandbuch 30-31B, so die kryptische Stellungnahme Washingtons, habe nie existiert. Es handele sich um eine Fälschung aus der Zeit des Kalten Krieges.

Allerdings spielt das umstrittene „Field Manual 30-31B“ in Gansers Arbeit nur eine marginale Rolle. Der an der Universität Basel lehrende Historiker geht in seiner Untersuchung vielmehr jenen geheimen Militärstrukturen in Europa nach, die 1990 in Italien den „Gladio“-Skandal auslösten. Ministerpräsident Giulio Andreotti hatte damals zugegeben, dass die Nato in ganz Westeuropa Geheimarmeen unterhielt. In Belgien und der Türkei, Frankreich und der Schweiz – die ja gar nicht zur Nato gehörte – wurden in den Folgejahren parlamentarische Untersuchungskommissionen eingerichtet. Die wesentliche Leistung Gansers besteht darin, die diesbezüglichen Erkenntnisse aus fünfzehn Ländern zusammengetragen zu haben.

Das Forschungsergebnis birgt auch 20 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs gewaltigen Sprengstoff. Ganser weist nach, dass die Geheimdienste Großbritanniens und der USA unmittelbar nach 1945 in verbündeten Staaten so genannte Stay-Behind-Armeen aufzubauen begannen. Dabei handelte es sich um paramilitärische Gruppen, die im Fall einer sowjetischen Invasion als Partisanen zum Einsatz kommen sollten. Die Geheimarmeen legten Waffendepots an, führten Trainingskurse durch und waren so konspirativ organisiert, dass selbst in den Staatsführungen – von den Parlamenten ganz zu schweigen – nur wenige über ihre Existenz informiert waren. Koordiniert wurde die Struktur durch zwei Planungsstäbe der Nato: das Allied Clandestine Committee und das Clandestine Planning Committee, die mindestens bis 1990 regelmäßig zusammentrafen.

Mag man den Aufbau einer demokratisch nicht mehr kontrollierbaren Armee noch mit dem Blockkonflikt erklären, lassen sich andere Aspekte Gladios wirklich nur als skandalös bezeichnen. Zum einen warben die Geheimdienste auf der Suche nach verlässlichen Einsatzkräften bevorzugt Faschisten an. Zum anderen beschränkte man sich nicht auf eine potenzielle Invasionsbekämpfung.

Ganser kann nachweisen, dass die Gladio-Gruppen zumindest in Italien, Belgien, der Türkei und Frankreich massiv innenpolitisch intervenierten und an rechtsterroristischen Anschlägen beteiligt waren. Was Italien angeht, sind die Fälle einigermaßen bekannt: Die blutigen Anschläge 1969 auf der Piazza Fontana in Mailand oder 1980 am Bahnhof von Bologna wurden mit geheimdienstlicher Rückendeckung durchgeführt. Im Rahmen einer „Strategie der Spannung“ sollte die Bevölkerung verunsichert und einer autoritären Lösung der innenpolitischen Krise das Terrain bereitet werden.

Sogar in Deutschland gibt es Hinweise auf Terrorverbindungen Gladios. Bereits in den 1950ern hatte ein Untersuchungsausschuss des hessischen Parlaments recherchiert, dass vom Geheimdienst aufgebaute Parallelarmeen antikommunistische Todeslisten zusammengestellt hatten. Und nach dem Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 sagten Zeugen aus dem Täterumfeld aus, dass ein rechtsextremistischer Forstmeister namens Heinz Lembke der Szene Sprengstoff angeboten hatte.

Die Justiz, die sich auf die Einzeltäterthese versteift hatte, ging den Hinweisen jedoch nicht nach. Ein Jahr später stießen Waldarbeiter zufällig auf die Waffenlager des NPD-Mitglieds Lembke. In insgesamt 33 Depots in der Lüneburger Heide lagerten Hunderte von Nato-Waffen, die ausgereicht hätten, um eine ganze Kompanie auszurüsten. Lembke kündigte umfangreiche Aussagen an, wurde zwei Tage später jedoch erhängt in seiner Zelle gefunden.

Ob die rechtsterroristische Offensive 1980 in Deutschland, die mehr Menschen das Leben kostete als die RAF-Anschläge von 1977 bis 1980, tatsächlich im Zusammenhang mit Gladio steht, sei dahingestellt. Ganser relativiert offene Fragen und bleibt wohltuend nüchtern. Er verweist jedoch darauf, dass das Gladio-Netzwerk bis heute nicht seriös untersucht werden konnte, weil die Nato ihre Dokumente unter Verschluss hält. In Zeiten, in denen zum globalen Antiterrorkampf mobilisiert wird, muss man sich damit auseinandersetzen, ob und in welchen Zusammenhängen die viel beschworene „westliche Staatengemeinschaft“ selbst terroristische Methoden gebilligt oder sogar propagiert hat.

Daniele Ganser: „Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung“, aus dem Engl. v. Carsten Roth, Orell Füssli, Zürich 2008 , 446 Seiten 29,80 Euro