Verliebt in die Krise

Kurt Beck will die SPD in die Zukunft führen, indem er sie mit der rot-grünen Vergangenheit versöhnt. Aber nur der Mindestlohn wird dafür nicht ausreichen

Früher bekriegten sich in der SPD ihre Landesfürsten – jetzt zerfetzen sich rechter und linker Flügel Kurt Beck ist eigentlich ein Rechter – aber ihm blieb keine Alternative zu einem linken Kurs

Konservative Leitartikler fragen schon sorgenvoll, ob die Demokratie auch ohne SPD funktionieren kann: In Umfragen sinkt die Partei auf einen historischen Tiefstand, die Mitgliederzahl schrumpft. Der Vorsitzende aus der pfälzischen Provinz wirkt auf der nationalen Bühne ungelenk. Und alle seine Appelle, den eskalierenden Flügelstreit in der SPD einzustellen, bewirken bloß das Gegenteil. CDU-Politiker wiederum geben den vergifteten Ratschlag, sich schroff nach links abzugrenzen – obwohl doch erst das kurzsichtige Nein des SPD-Chefs zu jeder Zusammenarbeit mit den Postkommunisten in den Ländern die Glaubwürdigkeitskrise ausgelöst hatte. Die nächste Bundestagswahl, davon sind alle Kommentatoren überzeugt, ist für die SPD so gut wie verloren.

So war es vor 12 Jahren, im Winter 1995. Rudolf Scharping war der hilflose SPD-Chef, den Oskar Lafontaine damals stürzte und damit das Chaos beendete. Die Krise der SPD heute ähnelt der damaligen in manchem. Wie damals begibt sich die SPD geradezu lustvoll in eine Art negative Symbiose mit den Medien. Die greifen begierig jeden Zwist, jedes Zaudern und Anzeichen von Führungsschwäche auf, bis die ganze Partei als Ansammlung von Politamateuren und Wirrköpfen erscheint. Offenbar gibt es in der SPD eine, in der Union unbekannte, Liebe zur Krise, die durch endlose Rechthaberei und ausdauernde Selbstbefragungen in Gang gehalten wird.

Der Anlass der Krise ähnelt sich: 1994 spielte Scharpings unhaltbares Nein zur Zusammenarbeit mit der PDS in Osten eine Rolle, 2007 war es Becks unhaltbares Nein zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Westen. Beide SPD-Chefs wirken gleichermaßen steif, autoritär und medienuntauglich – und unglaubwürdig in ihrem Zickzackkurs gegenüber der PDS-Linken.

Doch die Gründe, warum niemand den Selbstzerstörungskurs stoppt, sind heute anders gelagert. In den Neunzigern regierte die Sozialdemokratie in den meisten Bundesländern. Ihr Problem war, dass es, von Bonn bis Hannover, von Saarbrücken bis Düsseldorf, konkurrierende Machtzentren gab, die sich gegenseitig leidenschaftlich bekriegten.

2008 leidet die SPD keineswegs unter dem Stimmengewirr zu vieler Machtzentren. Vielmehr stehen sich zwei Lager gegenüber: Der, eigentlich eher konservative, Kurt Beck wird von den SPD-Landesverbänden und den Linken unterstützt – die rechten SPD-Minister Steinmeier und Steinbrück wissen die Mehrheit der Fraktion hinter sich. Doch Beck ist nicht das Hauptproblem der SPD. Es ist schlimmer, auf jeden Fall tiefgreifender.

Die SPD war in ihrer Geschichte stets die „Schutzmacht“ der kleinen Leute. Erfolgreich war sie, wenn sie gleichzeitig für soziale Aufsteiger attraktiv war und somit die Interessen von Unter- und Mittelschicht zu bündeln verstand. Unter Schröder hat die SPD die Rolle als Anwalt der Unterschicht kampflos geräumt. Manche Reformen waren wohl nötig – aber vor allem hat Rot-Grün mit enormen Steuererleichterungen die sozialen Gegensätze katalysiert. Unter Rot-Grün sind die Unternehmensgewinne explodiert, die Reallöhne aber gesunken. Prekäre Jobs haben zugenommen, und die Mittelschicht ist seit 1998, auch wegen Schröders Reformen, dramatisch geschrumpft. Es klingt wie ein schlechter Witz: Die SPD hat von 1998 bis 2005 tatkräftig an der Rückkehr der Klassengesellschaft mitgewirkt, deren Abschaffung zugunsten der Mittelschichtsgesellschaft jahrzehntelang ihr Ziel gewesen war.

Für die SPD hat die Schröder-Ära zwei dramatische und kaum zu überschätzende Nachwirkungen. Ihr Markenkern „soziale Gerechtigkeit“ liegt in Trümmern. Und: In der neuen Klassengesellschaft ist es für die SPD viel schwieriger, Mittel- und Unterschicht gleichermaßen anzusprechen. Die Wahlerfolge der Linkspartei sind keineswegs das Ergebnis einer allzu linken Rhetorik der Beck-SPD. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer tektonischen Verschiebung im Sozialgefüge, in der sich ein Teil der wachsenden Unterschicht gesellschaftlich abgehängt und politisch nicht mehr vertreten sieht.

Der eigentlich konservative Beck musste daher einen „Linksschwenk“ inszenieren, der aber letztlich eine optische Täuschung bleibt. Dass die SPD auf den Mindestlohn und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes setzt, war der Griff zur Notbremse – und keine strategische Neujustierung. Oder hätte die SPD sich wirklich in Treue fest an die Agenda 2010 ketten sollen, während der christdemokratische Arbeiterführer Jürgen Rüttgers sie links überholt, Teile der Gewerkschaften zur Linkspartei abwandern und die eigene Stammklientel bei Wahlen frustriert zu Hause bleibt?

Hinter dem aktuelle Glaubwürdigkeitsdebakel zeigt sich auch das strategische Dilemma der Sozialdemokratie. 1995 war, trotz aller Ranküne, die Machtperspektive klar: Rot-Grün. 2008 ist ein Konzept, wie die SPD sich aus der großen Koalition befreien will, nicht erkennbar. Der Flop in Hessen hat den inneren Widerspruch der SPD bloßgelegt: Mit der FDP geht es nicht, für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei fehlt jede Vorbereitung. Bundespolitisch will Beck nach wie vor unbedingt mit FDP und Grünen koalieren – doch wie die zaghafte Resozialdemokratisierung der SPD ausgerechnet mit der unbeirrt neoliberalen FDP funktionieren soll, bleibt weiter sein wohlgehütetes Geheimnis.

Die SPD hat seit 2005 zögerlich begonnen, sich auf ihre Werte zu besinnen. Auf Anzeichen jedoch, dass die SPD den wohl entscheidenden Fehler der Schröder-Ära, die entschieden unternehmerfreundliche Steuerpolitik, revidieren könnte, wartet man bis heute vergeblich. Dabei liegen sozialdemokratische Ideen derzeit im Trend. Alle Meinungsumfragen zeigen, dass gut zwei Drittel der Wähler gegen weitere Privatisierungen sind, für die Bürgerversicherung im Gesundheitssystem, für Mindestlöhne, gegen eine wachsende soziale Kluft und dass sie den sozialen Absturz fürchten. Die Probe, ob die SPD ihre Resozialdemokratisierung ernst meint oder doch nur kosmetische Korrekturen will, wird der Kampf um die Privatisierung der Bahn zeigen.

Und: Die SPD wird koalitionstaktisch kühl ausrechnen müssen, wie eine rationale Arbeitsteilung zwischen ihr und der Linkspartei aussehen kann. Mag sein, das Wowereit das besser kann als Beck.

Was bleibt unter dem Strich? Die SPD hat das Tabu Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Westen abgeräumt – und sich dabei den größtmöglichen Imageschaden zugefügt, sich in heftige, unfruchtbare Flügelkämpfe gestürzt und ihren Gegnern mit der Verbindung „Wortbruch“ und „Zusammenarbeit mit Kommunisten“ eine wirksame Waffe in die Hand gedrückt. Auch das wird vorübergehen. Das medial enorm aufgepumpte Drama 1995 hat gezeigt: Die „SPD-Krise“ ist ein flüchtiges Phänomen. Und sei es nur, weil das Publikum das Stück irgendwann einfach satt hat.

STEFAN REINECKE

Fotohinweis:Stefan Reinecke, 49, lebt in Berlin- Kreuzberg, war früher Redakteur der taz-Meinungsseite und ist seit fünf Jahren Autor der taz. Er beschäftigt sich vor allem mit Innenpolitik, den Parteien und dem Thema Geschichtspolitik.