Das Imperium des Glücks

Verlage im Norden (X): Rein wirtschaftlich betrachtet ist die Oetinger-Gruppe der führende deutsche Kinder- und Jugendbuchverlag. Aber das Unternehmen ist viel mehr als ein schnödes Geschäft. Es ist Herzensangelegenheit, Lebensgeschichte und Familienroman

Gelüste, den Familienbetrieb zu schlucken, gab es oft. Der lässt sich aber nicht schlucken. Sondern expandiert

AUS HAMBURG-DUVENSTEDT BENNO SCHIRRMEISTER

Die Frage war wirklich nicht böse gemeint. Wie könnte sie!, wie könnte die ganze Haltung des Fragers eine andere sein, als die inniger, fast demütiger Dankbarkeit: Danke für Lindgren, Danke für Kästner, Danke für Krüss. Für Nöstlinger, Maar, Mary Poppins und Pu. Und für all die anderen ersten, die frühen, die beglückendsten Erfahrungen des Selberlesens: Danke!

Aber für einen Moment hat sich, ganz deutlich, das Gespräch bewölkt. Und auf unendlich charmante Art macht Silke Weitendorf klar, dass sie die Behauptung für eine Zumutung hält. „Wann soll das gewesen sein?“, hakt sie nach, „2006?“ Dann greift sie nach dem Hörer, Haustelefon, Kurzwahl: „Der junge Herr hier behauptet, 2006 hätten wir keine Nominierung für den Jugendliteraturpreis gehabt“, fragt sie im Büro nach, „kann denn das stimmen?“

Ein Jahr ohne Nominierung, das ist doch kein Drama, würde man bei anderen Kinderbuchverlagen sagen. Auch die Oetinger-Gruppe hat das weißgott nicht in die Krise gestürzt: Erstens war es ja nur ein einmaliger Vorgang. Seit 1956 wird der Preis verliehen, allein in den ersten zehn Jahren hat man ihn acht Mal gewonnen, und 2007 sieht die Sache mit zwei Nominierungen und dem Sonderpreis fürs Lebenswerk der Hamburger Autorin Kirsten Boie ja gleich wieder ganz anders aus. Zweitens: Es gibt keine Delle im Umsatz. Im Gegenteil: 2006, im Jahr 60 nach Verlagsgründung, ist er um 37,6 Prozent auf 48,3 Millionen Euro hochgeschnellt – vor allem, weil man den Xenos-Verlag übernommen hat. Vergangenes Jahr hat man gleich noch einmal einen Sprung gemacht, hat den akademischen Suhrkamp- und selbst den breiter aufgestellten Hanser-Verlag überholt: 65,31 Millionen Euro.

Aber eben: Das sind ja bloß Geschäftszahlen. Und der Verlag Oetinger und seine mittlerweile neun Töchter, das ist eine Herzensangelegenheit. Eine Lebensgeschichte. Ein Familienroman.

Mittlerweile wird er von der dritten Generation weitergeschrieben, Silke Weitendorfs Kindern: Der jüngste beispielsweise, Till, 30 Jahre, ist verantwortlich fürs Segment „Neue Geschäftsfelder“, also Nonbooks, Internet und für das ambitionierte Sachbuch „Die Welt ist voller Löcher“, das gelehrt und witzig und mit großem haptisch-optischem Aufwand ein oft vernachlässigtes Sujet ergründet. Es galt vielen als erfrischendste Kinderbuch-Neuerscheinung 2007. Jan Weitendorf, der Älteste, ist 39. Immerhin, nach dem Studium hatte er sich zunächst abseits gehalten. Zweieinhalb Jahre arbeitete er bei einem amerikanischen Wirtschaftsprüfer. Er hatte vor, länger zu bleiben. Doch 1996 starb, unerwartet, der Vater. „Die Frage war für mich: Was hat Bedeutung?“, sagt Jan Weitendorf. Sie war schnell beantwortet: Er wechselte in die Oetinger-Geschäftsführung. Er hat das Neue Medien-Programm aufgebaut. „Es ist notwendig“, sagt er, „dass man bestimmte Dinge besetzt – um nicht geschluckt zu werden.“

Beim Kinderkino ist gerade der Trickfilm „Tomte Tummetott und der Fuchs“ für den Grimme-Preis nominiert. Und auch die 18 Computerspiele basieren nicht nur auf den Büchern: Sie zwingen sanft zum Lesen zurück. Zum Beispiel die DVD „Apselut Spunk“: Wenn die Kinder mit einer computeranimierten Madita auf dem nur an einem Punkt durch einen Taschenlampen-Lichtkegel erhellten Bildschirm „Zaster gesucht“ haben – dann wollen sie auch die Geschichte kennen lernen. Infam: Das Buch gibt’s auch nur bei Oetinger.

Seit Jahresbeginn hat Jan Weitendorf die kaufmännische Leitung der Gruppe übernommen. Gelüste, den Familienbetrieb zu schlucken, gab es oft. Der lässt sich aber nicht schlucken. Sondern expandiert: 1971 wird der Kästner-Verlag Dressler übernommen. Klopp hat man 1999 gekauft, genauso wie Ellermann. Die Gruppe beschäftigt fast 110 Mitarbeiter, gut 100 weitere sind mittelbar abhängig. „Das ist schon eine große Verantwortung“, sagt Jan Weitendorf.

Es war ein geräuschloser Wechsel, kaum anders als in den 1960ern: Der Gründer Friedrich Oetinger zieht sich zurück, seine Frau Heidi bleibt – gut 20 Jahre lang – in der Geschäftsführung. Sie lebt noch heute auf dem Gelände, im November wird ihr 100. Geburtstag gefeiert werden. Verlagsleiter wird damals Schwiegersohn Uwe Weitendorf, seine Frau arbeitet im Lektorat: „Ich bin da hineingewachsen“, erzählt Silke Weitendorf.

Wie wäre es auch anders möglich gewesen? Die Verlagsgeschäfte werden anfangs in der zweieinhalb Zimmer-Wohnung ihres Stiefvaters Friedrich Oetinger erledigt. Er war Antiquar gewesen. Schon 1946 erlaubt ihm die britische Militärregierung die Produktion philosophischer und wirtschaftswissenschaftlicher Werke. Und von Jugendschriften.

Die Urszene des Unternehmens aber ereignet sich drei Jahre später: Oetinger reist wegen eines von fünf deutschen Editionshäusern indigniert abgewiesenen schwedischen Kinderbuchs nach Stockholm. Er will die Rechte kaufen und besucht die Autorin. „Herein trat ein sehr bescheidener Herr, der Franz Schubert auffallend ähnlich sah“, wird diese die Begegnung später schildern. „Nach einem besonders erfolgreichen Verleger sah er nicht gerade aus.“ Astrid Lindgren vertraut ihm „Pippi Långstrump“ an. Bald kommt es zum Gegenbesuch: „Mit elf Jahren“, erinnert sich Silke Weitendorf, „habe ich Lindgren kennen gelernt.“

Die deutsche Sprache ist 1949 noch sehr zugemufft. Das Papier für die Erstausgabe von „Pippi Langstrumpf“ ist rationiert, die Zensur penibel, die Startauflage mit 3.000 Exemplaren bescheiden. Die Kritik alter Pauker zielt auf Vernichtung. Der Erfolg kommt trotzdem. Hält an. Wird größer. Immens. Das Unternehmen wächst: Es wird eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung. Zusätzliche Räume sind anzumieten. „1960 ist der Verlag dann hier rausgezogen“, sagt Silke Weitendorf.

Hier raus: Der alte Gutshof liegt auf einem 6.000 Quadratmeter-Grundstück zwischen Pferdekoppeln und Baumschulen, einen Spaziergang entfernt vom Duvenstedter Brook, der Oberlauf der Alster, alles grünt – ist das noch Hamburg? Es ist. Aber es ist eben auch eine Oase weitab, ein idealer Ort.

Das passt zum Programm. Denn die Oetinger-Welt ist nicht partout und ganz heil. Aber heiler als anderswo. Zum Beispiel der erkennbare Jugendbuch-Trend zu drastischen Gewaltdarstellungen – „das machen wir nicht mit“, sagt Jan Weitendorf. Keine kaufmännische Entscheidung: Gewinn spielen die Schocker ja ein. Aber: Man verzichtet in Duvenstedt ja auch auf andere Geschäfte. Im Essay-Band „Vom Lesen und Schreiben“ berichtet Paul Maar von 24 Anfragen, das Sams zu verfilmen. Er habe sich dagegen gewehrt, „und obwohl der Oetinger-Verlag auch ohne meine Einwilligung die Filmrechte hätte veräußern können, respektierte man meinen Widerstand“. Bis zum Sinneswandel des Verfassers. „Wir sind ein Autorenverlag geblieben“, heißt es schlicht von den Weitendorfs.

Der Raum war früher Scheune. Die Front verglast, Papp-Aufsteller, natürlich Pippi-Langstrumpf, noch vom Jubiläumsjahr, die Seitenwand ein paar Plakate von den wichtigen Herbsttiteln, von Cornelia Funkes Lesereise, von Kirsten Boies „Alhambra – ein fantastisches Buch! – das ihr endlich auch den englischen Markt öffnen wird. Außerdem: Ein zigmeter langes Regal voller Bücher. Die Mutter sitzt am Konferenztisch, der Sohn auch. Ein Kontrast: Sie, spitze Nase, schmal, damenhaft. Er sportlich-breitschultrig, kerlig-smart.

Sie nehmen sich Zeit, viel Zeit, mehr als gehofft: Manche Gesetzmäßigkeiten des kleinen Imperiums sind nicht leicht zu verstehen. Okay, dass untereinander konkurrierende Lektorate mehr sehen, mehr entdecken – das ist nachvollziehbar. Aber warum ist ein Dressler- ein Dressler- und kein Oetinger-Titel? Die Erklärungsversuche sind geduldig, aber zwecklos. Kann denn ein Außenstehender jemals den vollen Sinn einer Familientradition verstehen? Muss er das? Ist nicht das verbindende Element das interessantere?

In einem poetologischen Essay berichtet Paul Maar von seinem Verdacht, Kinderbuchautoren hätten eine ungewöhnlicheKindheit erlebt: „glücklicher oder zerstörter“ als die anderer Menschen. Die einen schrieben, um sich deren „intensive Glücksmomente vor Augen zu führen“. Die anderen um sie „schreibend nachzuschaffen“. Ob das allgemeingültig ist, ist schwer zu sagen. Auf die Oetinger-Verlage passt es. Weil wer sich als Kind von deren Büchern hat fesseln lassen, genau das erfährt: Ein Glück. Ein überbordendes Glück. Ein Glück, das sich mitteilt.