Schule der Monster

Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein erklärt in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ virtuos, wie sich der Neoliberalismus in den vergangenen 30 Jahren über die gesamte Welt ausbreiten konnte

Was haben der Hurrikan „Katrina“, der Irakkrieg und der Zusammenbruch der Sowjetunion gemeinsam? Immer handelte es sich um Krisen, die die Menschen für kurze Zeit in einen Schockzustand versetzen. Diesen Zustand der Orientierungslosigkeit nutzen neoliberale Wirtschaftsreformer, um ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen. Und die lassen sich auf drei Leitlinien vereinfachen: Deregulierung, Privatisierung und den Abbau des Sozialsystems. So sieht es zumindest die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein. Diese Reformer verortet sie bei den „Chicago Boys“, deren Chefdenker, den 2006 verstorbenen Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman, sie ein „Monster“ nennt.

Vier Jahre lang ist die kanadische Journalistin und linke Aktivistin um die Welt gereist und hat in Krisengebieten recherchiert. Herausgekommen ist „Die Schock-Strategie“ – ein fast 800 Seiten dicker Wälzer. Akribisch genau beschreibt sie darin, wie sich der Neoliberalismus in den vergangenen 30 Jahren über die gesamte Welt ausbreiten konnte. Dabei widerlegt sie den Mythos, dass Kapitalismus und Freiheit Hand in Hand gehen. Ihre Beobachtung: Weil es die Chicago Boys nicht geschafft haben, den Neoliberalismus auf friedliche Weise einzuführen, hatten sie keine Skrupel, sich auch menschenfeindlicher Methoden zu bedienen. Aus Kleins Sicht beruht der Siegeszug des Neoliberalismus vor allem auf zwei Dingen: Katastrophen und extremer Gewalt.

Premiere feierten die Chicago Boys Kleins Recherchen zufolge 1973 nach dem Putsch Pinochets in Chile. Der Diktator gab den Neoliberalen freie Hand. Innerhalb weniger Monate wurde die Krankenversorgung privatisiert, wurden Staatsbetriebe der öffentlichen Daseinsfürsorge verscherbelt und die Märkte für ausländische Unternehmer geöffnet. Millionen Chilenen stürzten daraufhin in Armut, während einige wenige extremen Reichtum anhäuften. Wer sich dem widersetzte, verschwand in Pinochets Lagern.

Auch den Zusammenbruch des Kommunismus in Russland und Polen wussten die Friedman-Ideologen zu nutzen: Kaum war das alte System gestürzt, wurde auch mit sämtlichen sozialen Errungenschaften aufgeräumt. Und die extreme soziale Ungleichheit in China führt Klein auf die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 zurück.

Aber auch Beispiele aus einem Industrieland weiß Klein aufzuzählen: Nach „Katrina“ sei mit einem Federstrich das öffentliche Schulsystem von New Orleans privatisiert worden. Und der Schock, der die USA 2001 nach den Anschlägen auf die Twin Towers erfasste, habe es Bush erst ermöglicht, den Irakkrieg anzuzetteln. Leider geht Klein nur wenig darauf ein, wie es in der Sowjetunion vor der Schocktherapie ausgesehen hat. Auch kam der Neoliberalismus in China nicht plötzlich 1989 mit der Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wie sie es beschreibt.

Der Schock scheint für viele Chinesen eher ein Dauerzustand zu sein. Die Kommunistische Partei hatte ihn bereits lange vorher eingeleitet, um das Land auf Kosten eines Hundertmillionenheers von unterbezahlten Wanderarbeitern an die Spitze des Kapitalismus zu katapultieren. Dennoch gelingt Naomi Klein eine ausführliche Analyse der vergangenen 30 Jahre, die sie geschickt einer simplen und doch zutreffenden These unterordnet: Im Schockzustand lassen sich Dinge durchsetzen, denen die Menschen in stabilen Zeiten nie und nimmer zustimmen würden.

Nach ihrem ersten Bestseller, „No Logo“, in dem sie die Machenschaften der Markenkonzerne beschrieb, wurde Klein zur „Ikone der globalisierungskritischen Bewegung“ gekürt. Zu Unrecht. Dieser Titel gebührt ihr erst mit ihrem aktuellen Werk. Den wird ihr aber so bald niemand streitig machen. FELIX LEE

Naomi Klein: „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus“. Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 768 Seiten, 22,90 Euro