Erfolg in Metaphern

EUROPA Der niedersächsische Grünen-Politiker und Datenschutz-Aktivist Jan Philipp Albrecht ist mit 26 Jahren der jüngste Deutsche im Europäischen Parlament. Dennoch wird er gehört. Ein Ortstermin

Das Europäische Parlament wird seit 1979 alle fünf Jahre direkt gewählt. Seinen Hauptsitz hat es in Brüssel, es muss aber zwölf Mal im Jahr in Straßburg tagen. Von den Abgeordneten wird dieser in den EU-Verträgen etablierte „Wanderzirkus“ vielfach kritisiert.

■ Mit In-Kraft-Treten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember hat das EU-Parlament 754, später 750 Abgeordnete, die sich auf derzeit sieben Fraktionen verteilen. Aktuell haben Christdemokraten 265, Sozialdemokraten 184, Liberale 84, Grüne 55 Sitze.

■ Eine Fraktionsdisziplin gibt es nicht, weil der klassische Gegensatz zwischen Regierung und Opposition entfällt.

AUS STRASSBURG JAN ZIER

Das Parlament ist nicht der Ort für große Debatten. Jedenfalls nicht in Straßburg. Exakt eine Minute dauerte im September der erste Auftritt des grünen Abgeordneten Jan Philipp Albrecht im Europäischen Parlament. Das übliche Maß für eine Rede dort. Auf seinem schlabbrigen T-Shirt, das der 26-Jährige für diesen Auftritt gewählt hat, steht „Raven für Reformen“. Auf ein Jackett darüber hat er verzichtet, auf eine Rasur auch. Im Plenum zugehört hat seinerzeit kaum jemand, vielleicht drei Dutzend Parlamentarier. Albrechts Thema: Das umstrittene Swift-Abkommen der EU mit Amerika zur Weitergabe von Bankdaten zur „Terrorbekämpfung“. Eine abgelesene, indes kämpferische Rede.

Am Montag soll der EU-Ministerrat über den Vertrag entscheiden, Albrecht ist ein entschiedener Gegner des Abkommens. Und mittlerweile wird er gehört: Von Spiegel online, von der Financial Times, der Frankfurter Allgemeinen, selbst von der FDP. Die taz erhob Albrecht gar zum „Innenexperten“. Das, sagt er, sei doch etwas „dick aufgetragen“.

Vor einem Jahr saß der Mann aus Wolfenbüttel noch im Bundesvorstand der Grünen Jugend, studierte Jura. Er ist „eher ein Linker“, findet er, sagt aber auch Sätze wie: „Man kämpft um Mehrheiten, nicht nur um das reine Gewissen“. Ins traditionelle Realo-Fundi-Schema der Grünen ist er nicht so recht einzuordnen.

Auf Platz zwölf der niedersächsischen Grünen zog er im Sommer ins EU-Parlament ein, sitzt dort als jüngster von 99 Deutschen, als einer von drei Grünen unter 30. Das verschafft Albrecht – aber nur für kurze Zeit – Aufmerksamkeit. Er selbst spricht lieber von „Verantwortung“. Dennoch: Einer wie Albrecht ist ein klarer Fall für die Hinterbank. 736 Abgeordnete hat das Parlament derzeit. Und es kennt sie kaum einer. „Im Grunde“, sagt Albrecht, „ist hier jeder Hinterbänkler“. Außer vielleicht Daniel Cohn-Bendit, der charismatisch-autoritäre Fraktionschef der Grünen im EU-Parlament, der Alt-68er, der gerne auch mal ein wenig Chauvi ist.

Albrecht sitzt nur wenige Reihen hinter ihm – seines Nachnamens wegen. Einmal im Monat treffen sie sich hier in „Stressburg“, wie die Parlamentarier es nennen. Sie sitzen dann auf halber Strecke zwischen dem alten Straßburg und Kehl, in einer riesigen hölzern eingefassten Kugel in einem noch riesigeren Bau aus Glas und Stahl, in kantigen blauen Sesseln, die im weißen Neonlicht ein wenig an das Parlament aus „Star Wars“ erinnern. Fehlt nur, dass sie schweben.

Nur einmal am Tag kommen wirklich alle Abgeordneten zusammen: wenn über alles abgestimmt wird, in hektischer Abfolge über Hunderte von Anträgen und Änderungsanträgen befunden wird, die sich um große Fragen drehen, auf Ziffern reduziert, deren Inhalte nur noch Eingeweihte dechiffrieren können. In dieser Woche etwa die EU-Erweiterung, der Klimagipfel von Kopenhagen, der Vertrag von Lissabon.

Albrecht ist einer, der alle diese grundsätzlichen Fragen diskutieren will, eigentlich noch lieber in der UNO-Vollversammlung, aber die wird ja nicht vom Volk gewählt. Das Europaparlament, sagt er, sei sein Traum. Weil er hier die „Zukunft der Leute“ am meisten verändern könne. Er ist ein „Europa-Fanatiker“. Maximal zwei Legislaturperioden will er bleiben, zehn Jahre, das hat er seiner grünen Jugend versprochen. Und danach sein zweites Staatsexamen machen. Womöglich reicht es dann noch für den nächsten Traum: den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in Straßburg gleich neben dem Parlament angesiedelt.

Jan Albrecht will im EU-Parlament „ein bisschen rumpunken“. Und Schlabberlook tragen statt Anzug

Vorerst will er, wie er es nennt, aber noch „ein bisschen rumpunken“. Und Schlabberlook tragen. Nur als er dieser Tage im St. Pauli-Shirt reden wollte, haben sie ihn gebremst. Zu groß war die Gefahr, als Pirat zu gelten. Das „Stockholm-Programm“ war für drei Minuten sein Thema, also der Fünf-Jahres-Plan der EU zur Innen- und Rechtspolitik. Eine Debatte, das man „kaum jemand vermitteln kann“, sagt Albrecht. Eine, bei der das EU-Parlament künftig mitentscheiden darf. Albrecht hat für die Grünen mitverhandelt, erreicht, dass es in der Resolution nicht länger heißt, „Sicherheit“ und „Freiheit“ sollten „in Balance“ stehen. Erstere, so das neue Mantra, ist nur noch Mittel der Freiheit. Albrecht sieht das als einen seiner größten Erfolge. Als Wandel im Diskurs um die Terrorbekämpfung. Ein metaphorischer Triumph, der sogleich gebloggt, getwittert wird, für You Tube festgehalten.

Albrecht, sagt einer in Straßburg, „rockt das Haus“. Zu Hause in seiner Vierer-WG in Hannover interessieren sie sich nicht so für solche Fragen. Oder überhaupt für Politik. Aber sie sollen ihn ja „am Boden halten“, wie er sagt, ihm beibringen, wie man noch über Kinofilme redet, wenn man nur „Swift“ im Kopf hat. Ob er an dem Klischee des grünen WG-Bewohners hängt? Albrecht zögert.

Auch der Bürgermeister von Wolfenbüttel, mit dem er gestern verabredet war, will von Stockholm oder Swift nichts hören. Und lieber über EU-Fördertöpfe reden. Albrecht nicht. Er hat davon auch keine rechte Ahnung. Er spricht lieber mit Schülern. Das, sagt er, ist „cool“.