Über dem Ende der Fahnenstange

HAUSBESUCH Martje Saljé wacht über Münster. Als Türmerin der Lambertikirche

VON TOBIAS ROMBERG
(TEXT) UND ROMAN MENSING (FOTOS)

Münster, über den Dächern arbeitet Martje Saljé (34) im höchsten Büro der Stadt.

Draußen: Die Friedensstadt in voller Pracht. Der Prinzipalmarkt liegt uns zu Füßen. Mit all den Giebelhäusern, aufgezogen wie Perlen an zwei Ketten, eins davon das Rathaus, Ort des Westfälischen Friedens, verewigt in Geschichtsbüchern. Kopfsteinpflaster, über das Studenten mit alten Fahrrädern, Leezen genannt, scheppern. Martje Saljé, 34 Jahre alt, Türmerin der Stadt, in der katholischen Marktkirche Sankt Lamberti über Münster thronend, sieht alles. „Mit jeder Stufe, die ich beim Aufstieg nehme, entferne ich mich von dieser turbulenten und doch unsicheren Welt. Das hat etwas Meditatives, Befreiendes“, sagt Martje.

Drin: 300 Stufen, inklusive der zwei, die unten zum Türmereingang führen, bis zum Arbeitsplatz von Martje. Auf dem Weg geht es vorbei am Ende der Fahnenstange, an den Wiedertäufer-Käfigen und der Rats- und Brandglocke, die nur noch bei der Oberbürgermeisterwahl geläutet wird. Das Zimmer, 75 Meter über der Stadt, 24 Meter unter der Turmspitze, ist eng, Studentenzimmergröße. Schreibtisch, Bürostuhl, ein Tisch, Stühle, Bücherregal. An einer Wand Fotos von anderen Türmern, einige hat Martje besucht, und ein Foto von zwei Katzen: Tinkabell und Cocomau Miez de la Katz, Martjes Mitbewohner („Obwohl ich eigentlich ein Hundetyp bin“).

Feuerwehr: Martje kommt heute etwas kurzatmig im Büro an. Eine Allergie macht ihr zu schaffen. Sie ruft als Erstes die Feuerwehr an: „Ja moinsen, die Türmerin. Ich bin eben auf meinem Posten angelangt.“ Fröhlich, freundlich, laut. „Ich bin das Auge der Feuerwehr“, sagt sie. Sie hat von da oben schon Brände erkannt und gemeldet. Kommt aber nicht allzu oft vor.

Türmerin: Das Amt des Türmers ist für Münster urkundlich erstmals 1383 erwähnt. Er warnt vor Brand und Feind („Im Mittelalter gehörte der Türmer so wie der Henker zu den unehrlichen Broterwerben“). Und heute? Martje hat sich in Münster gegen 40 Männer und 6 Frauen durchgesetzt, die auch nach ganz oben wollten. Öffentlicher Dienst, unbefristet, halbe Stelle, Nacht- und Wochenendzuschläge.

Geld: Martje hat eine genehmigte Nebenbeschäftigung bei der Sparda-Bank („Etwas ganz anderes, was mit Computern“). Als Türmerin wird man nicht reich. „Wenn man bescheiden lebt, dann kommt man hin.“

Martje: Martje holt das Kupferhorn, ihr Arbeitswerkzeug, gefertigt 1950. Der Job als Türmerin sei ihre Berufung, entdeckt nach einem abenteuerlichen Vorleben. „Alles ist von Gott gewollt“, sagt die Protestantin. Sie wird in Bremen geboren, lebt als Kind viele Jahre in Norwegen, eine Zeit lang in Kanada. Der Vater war Professor für Film- und Theaterwissenschaften. Martje studiert in Oldenburg Geschichte und Musik, arbeitet in Museen und Archiven, auf einem Mittelaltermarkt, als Lehrerin, reist als Musikerin umher. Jetzt ist sie Türmerin. Die erste Frau mit dieser Aufgabe. „Der Turm schwankt bei Sturm“, sagt sie.

Der erste Ton: Martjes erster Arbeitstag war der 1. Januar 2014. Den allerersten Ton versemmelt sie. „Ich spiele so viele Instrumente, da hat es die Stadt Münster wohl beim Bewerbungsgespräch nicht interessiert, ob ich auch Horn spiele.“ Ihr Vorgänger gibt ihr Nachhilfe. Seitdem tutet – „so nennt man das“ – sie jeden Tag, außer dienstags, halbstündlich zwischen 21 und 24 Uhr, in drei Richtungen, laut wie ein Schiffshorn. Früher tutete der Türmer von 22 bis 6 Uhr. Martje tritt aus ihrem Büro auf den schmalen Balkon, der um den Turm führt. Sie tutet, lange Signale, zur vollen Stunde für jeden Glockenschlag einmal, halbstündlich weniger. Die Botschaft: „Es ist alles in Ordnung. Es brennt nicht im näheren Umkreis, es stehen auch keine Feinde vor den imaginären Stadtmauern.“ Früher überlebenswichtig. Heute Stadtmarketing.

Einsamkeit: Es gibt turbulentere Jobs. Man denkt an Prinzessinnen, die auf Türmen gefangen gehalten werden. Abgeschnitten von der Außenwelt. Rapunzel-Style. Martje liebt die Ruhe.

Rampenlicht: Martje ist nicht abgeschnitten von der Welt. Sie hat hier oben einen Computer mit Internet. Sie bloggt zwischen den Tuteinheiten, für sich und für das Stadtmarketing. Sie hat eine Facebook-Seite und Fans. Vielleicht auch Verehrer, die ab und zu unten stehen und winken, wenn sie tutet. Bei einem Radiosender sind nach einem Interview mit ihr auch schon Liebesbriefe eingegangen. Die Medien reißen sich um sie. Die BBC war schon da. Bald kommt ein Journalist aus Mumbai. „Single-Frau wird Türmerin in Münster“, schrieb die Bild in den Wochen vor ihrem Dienstantritt. „Solche privaten Sachen will ich eigentlich nicht“, sagt Martje. Kaum Auskünfte zum Privatleben. Dafür Geschichten von Turmmitbewohnern, beispielsweise von Hildegardis, der Kreuzspinne, und Falco, dem Falken, der hier oben eine Familie gründete.

Was fühlt Martje im Büro? Der Turm ist das Kontrastprogramm, sagt Martje. Losgelöst von der Hektik des Alltags. Klare Gedanken in luftiger Höhe. Angst hat sie nie. Sie war auch beim großen Unwetter Ende Juli 2014 auf ihrem Posten. Unter ihr soff die Stadt ab. Oben zerschmetterten Blitze Fenster des Büros. Martje blieb. Erst als die Chefin anrief, stieg Martje hinab. Seitdem gibt es eine neue Dienstanweisung. Bei Unwetterwarnung mit der Warnstufe Rot darf Martje nicht hinauf.

Musik: Manchmal spielt Martje im Turm Gitarre. Die spielt sie seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie hat auch Bass und Kontrabass gelernt. Und Flöte. Und Cello. Und Renaissance-Laute. Und Schiffer-Klavier („Musik ist etwas Wunderbares“). Manchmal spielt sie als Türmerin bei Benefizkonzerten. Das bringt der Job mit sich. So wie gelegentliche Vorträge in Kindergärten und Schulen.

Was macht Martje glücklich? Musik. Zahlenmystik. Die Aufgabe als Türmerin, mit dem Ziel, „Geschichtsbewusstsein“ zu schaffen. Und der Blick über „die schönste Stadt der Welt“.

Wie finden Sie Merkel? „Was soll ich dazu sagen?“, fragt Martje und erbittet sich Bedenkzeit. „Ich darf mich als Türmerin der Stadt Münster wegen des Neutralitätsgebots nicht politisch äußern. Ich verfolge aber mit großer Aufmerksamkeit, was in der Welt, in Europa und in Deutschland passiert.“

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