Sich gegen Verbote wehren

GESELLSCHAFTSKRITIK In Zeiten patriotischer Stimmungsmache: die Ausstellung „Post-Soviet Cassandras“ in der Galerie im Körnerpark

Drei nackte Männer rennen, an ihren Penissen brennen Lunten

Farben in Russlands öffentlichem Raum verbindet unsere jüngste Erinnerung gerade mit der dort bisher größten Militärparade vom 9. Mai: Khaki, Grau und Stahlblau. Doch es gibt dort auch Regenbogenfarben. Durch Schablonen gesprühte Stencils erblühen auf allerlei Großstadtwänden – wenn auch meist nicht für lange. Für derart um sich greifende Kunst hat der Direktor einer Laminatfabrik in St. Petersburg die zahllosen Mauern seines historischen Gebäudekomplexes nun als erstes Street-Art-Museum der Welt freigegeben.

Von dorther fliegt uns plötzlich in der Galerie im Körnerpark in Neukölln auf einem Fresko ein Storch entgegen: mit Polizeimütze, einem Kreuz an der Kette um den langen Hals, im Schnabel eine Windel, aus der heraus ein großmäuliger, gelbgesichtiger Säugling brüllt. Willkommen in der Ausstellung „Post-Soviet Cassandras!“.

Die Wände der sonnendurchfluteten, neobarocken Neuköllner Orangerie gliedern sich in vier bis fünf Meter breite Kassetten. Jeder dieser Abschnitte liefert uns wie ein Guckkasten Ausblicke auf das Werk eines oder einer der sechs beteiligten EinzelkünstlerInnen aus postsowjetischen Ländern und auf die Arbeit eines Künstlerkollektivs. Und wir erhalten durch sie Einblicke in das Leben dort diskriminierter Randgruppen.

Den Storch schuf das Petersburger Team Gandhi, dessen Mitglieder anonym bleiben. Neben ihm lesen wir die Losung: „Vergewaltigt worden? Gebäre! Gott wird’s schon richten!“ Das ist eine ironische Anspielung darauf, dass die regierungstreue orthodoxen Kirche verhindern will, dass die russischen Krankenkassen weiterhin Abtreibungskosten übernehmen. Eine ultrapatriotische Stimmungsmache drängt Frauen in die klassische Rolle als Gebärerinnen von Kanonenfutter.

Viktoria Lomasko und Nadia Plungian, von russischer Seite im Neuköllner Kuratorinnenquartett, haben in Moskau in den Jahren 2012 und 2013 die ers- ten feministischen Kunstausstellungen ihres Landes organisiert, unter dem Namen „Feminist Pencil“. Aber diesmal wollten sie die ganze kreative Phalanx verschiedener in osteuropäischen Ländern geächteter gesellschaftlicher Gruppen dokumentieren.

In Kiew zum Beispiel ist ein bunter Ort die Ya-Gallery. Sie brachte die erste queere Anthologie der Ukraine hervor. Als dort 2009 eine Diskussion über Homophobie im Land stattfinden sollte, wurde sie Ziel eines Brandanschlags. In diesem Kontext entstand die Wandinstallation „Homophobie heute – Genozid morgen“ von Anatoly Belov: auf den Körpern dreier überlebensgroßer rennender nackter Männer sitzen Horusköpfe, an ihren Penissen brennen Lunten.

Nicht nur Kunst, die für Agitation und Demonstrationen genutzt wird, auch intimere Formate sind hier vertreten. Neben zwei großen Schablonengraffiti zeigt die Zeichnerin Victoria Lomasko auch Comic-Reportagen. Zum Beispiel „Girls from Nizhny Novgorod“, Zeichnungen von Provinzprostituierten, deren Gespräche sie auch wiedergibt. Die Arbeit „18 +“ zeigt Szenen in lesbischen Clubs. Nach einem neuen Gesetz in Russland sind alle Informationen über „nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ und ein Verhalten, das auf sie hinweist, gegenüber unter Achtzehnjährigen verboten. Zwei der Besucherinnen im Club erklären der Künstlerin: „Wir kommen nicht her, um neue Leute kennenzulernen, sondern weil wir uns hier endlich mal vor anderen an den Händen halten dürfen.“ BARBARA KERNECK

■ Bis 12. Juli, Galerie im Körnerpark, Di.–So., 10–20 Uhr, Schierker Straße 8, Eintritt frei