„Wir lassen Sinne weg“

SOCIAL DESIGN „Gestaltung ist häufig von den Belangen der Mehrheit bestimmt“, sagt Designforscher Tom Bieling. Dabei könnte die Mehrheit etwas lernen, wenn sie mal die Perspektive behinderter Menschen einnimmt

■ Tom Bieling, 36, sucht Lösungen für die Mensch-Maschine-Interaktion. Dafür kooperiert er mit Leuten mit Behinderung. Sein Lormhandschuh, ein „smartes Textil“ für die Ein- und Ausgabe digitalen Textes, kann taubblinden Menschen aus der Isolation helfen.

VON MAREICE KAISER
UND KATHARINA LUDWIG

Tom Bieling leitet den Bereich Social Innovation am Design Research Lab der Universität der Künste Berlin. Seit seinem Design-Studium in Köln sucht der 36-Jährige neue Lösungen für die Mensch-Maschine-Interaktion. Die Anfrage eines taubblinden Menschen, an einem seiner Workshops teilzunehmen, weckte sein Interesse für das Lormen, also die Kommunikation übers Tastalphabet. In Folge entwickelten er und sein Team den Lormhandschuh, ein technisches Gerät für die Kommunikation von und mit hörsehbehinderten Menschen.

taz: Herr Bieling, das Design Research Lab entwickelt Dinge, die Menschen in Kommunikation miteinander bringen sollen. Wie gehen Sie dabei vor?

Tom Bieling: Gestaltung ist häufig von den Belangen der Mehrheit bestimmt. Das ist irgendwie nachvollziehbar, denn wenn ich etwas entwickle, soll es von möglichst vielen genutzt werden können. Dabei werden aber die, die sich sowieso am Rand befinden, erst recht ausgegrenzt, weil sie das Ergebnis häufig nicht nutzen können. Ich dachte, vielleicht fängt man einfach mal auf der anderen Seite an und geht vom Marginalfall aus.

Was heißt das konkret für Ihre Arbeit?

Wir beschäftigen uns hier am Design Research Lab mit Informations- und Kommunikationstechnologien. Wenn wir Kommunikation oder Interaktion sagen, ist sie in der Regel auditiv-visuell geprägt. Also haben wir gesagt: Wir lassen jetzt manche Sinne einfach weg. Dann liegt es nahe, mit den Menschen zusammenzuarbeiten, die mit anderen Sinnen agieren.

Wie groß ist denn die Gruppe von Personen, die in Deutschland lormen?

In Deutschland gibt es 3.000 bis 6.000 taubblinde Menschen und zwischen 10.000 und 15.000 hörsehbehinderte Menschen, wobei es unterschiedliche Statistiken gibt. Hier in Berlin haben wir mit einer Handvoll Leuten gearbeitet. Das Fatale: Je kleiner eine Gruppe, desto geringer die Lobby, desto weniger Leute fühlen sich verantwortlich und desto weniger passiert.

Ist das der Auftrag von „Social Design“?

Ich war schon längere Zeit interessiert, inwiefern wir mit Technikgestaltung assistierend wirken können: Brücken bauen, Barrieren einreißen, wie immer man das auch nennen will. Das wirkt aber auch schnell patronisierend. „Ich erleichtere dir dein Leben“ – bei diesem Satz komme ich mir komisch vor. Die viel spannendere Frage ist für mich: Kann ich aus ganz bestimmten Behinderungskontexten nicht auch etwas lernen?

Also ist die Arbeit mit behinderten Menschen so etwas wie eine kreative Technik?

Nun, zumindest ein Perspektivwechsel. Die Frage, wie wir mit Behinderung umgehen oder wie wir Inklusion verstehen, hängt auch damit zusammen, wie Städte, Gebäude oder eben Kommunikationstechnologien gestaltet sind. Wenn wir uns gesellschaftliche Randbereiche genauer angucken und diese gar als Ausgangspunkt unserer Gestaltungsprozesse verstehen, ließen sich einerseits Dinge entwickeln, die in diesen Randsituationen gut funktionieren. Zugleich könnte etwas entstehen, von dem später alle etwas haben. Der Lormhandschuh erleichtert den Alltag von hörsehbehinderten Menschen, aber er zeigt auch Möglichkeiten auf, wie sich die Interaktion zwischen Mensch und Maschine zukünftig noch gestalten ließe, außer nur rein visuell-auditiv.

Wie läuft das ab?

Die meisten unserer Projekte sind partizipativ. Noch bevor es eine Projektidee oder einen Lösungsansatz gibt, setzt man sich mit den Leuten zusammen und guckt: Wie leben die, wie ticken die, was sind die Herausforderungen? Was funktioniert gut? Was funktioniert nicht so gut? Das ist ja auch so eine Fehlannahme, dass im Behinderungskontext alles immer schlecht funktioniert. Das ist totaler Schwachsinn. Es funktioniert vieles nicht so gut, viele Dinge sind aber auch einfacher.

Welche denn?

Gebärdensprache zum Beispiel. Wenn du auf der anderen Straßenseite auf dem Balkon sitzt und ich hier im Raum vor dem Fenster, können wir uns über Lautsprache nicht unterhalten. Mit Gebärdensprache wäre das aber kein Problem. Egal wie laut es draußen ist, solange wir Blickkontakt haben, können wir reden. Wir haben häufig eine rein defizitäre Sichtweise auf Behinderung, die stark an dieses medizinische Modell einer Ideal- oder Normalsituation gekoppelt ist. Die verbreitete Haltung ist: Wir sind in der Lage, dich zu rehabilitieren, indem wir dir eine Prothese, eine Therapie oder ein Medikament geben.

Welche Verantwortung haben Sie als Designer für Menschen mit Behinderung?

In dem Moment, wo du für Behinderung gestaltest, gestaltest du auch die Behinderung mit. Das kann man positiv und negativ auslegen. Zum Beispiel bei einem Hörgerät: Ich kann es sehr unauffällig gestalten; wenn ich es aber zu sehr kaschiere, dann weiß mein Gegenüber vielleicht nicht, dass ich schwerhörig bin, und wundert sich, dass ich nicht sofort reagiere. Wenn ich das Hörgerät aber bewusst so konzipiere, dass man meine Höreinschränkung sieht, wirkt es schnell stigmatisierend.

Sie testen den Lormhandschuh immer wieder gemeinsam mit taubblinden Menschen. Wie war die Zusammenarbeit für Sie?

Ich habe ganz viel über mich selbst gelernt. Es gab viele Ängste, Unsicherheiten, Ungewissheiten. Man weiß nicht, was man sagen soll, wie man sich unterhält. Ich erinnere mich an eine supernette Präsentation mit gehörlosen Menschen bei uns im Lab. Ich hatte schon einen Basiskurs in Gebärdensprache, und trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich gar nichts sagen kann, nicht mal Danke. Ich habe mich dann dabei ertappt, wie ich einfach nur den Daumen nach oben hielt. Und dann dachte ich: Oh wie blöd! Wahrscheinlich heißt das auch noch was ganz anderes!

Wie war es dann wirklich?

Ich habe gemerkt, dass ich nicht weiterkomme, wenn ich immer so unsicher bin. Ich muss die Sachen einfach mal fragen – auch auf die Gefahr hin, dass ich hier und da ins Fettnäpfchen trete oder etwas Falsches sage. Am Ende hat sich herausgestellt, dass alles halb so wild war. Die meisten fanden gut, dass ich überhaupt etwas sage, und meinten, ich solle mir keine Sorgen machen. Ins Fettnäpfchen kann man immer treten, ob mit oder ohne Behinderung. Sie würden es mir sagen, wenn mal etwas falsch ist, meinten sie.

Mehr Info: www.design-research-lab.org