MONTAGSINTERVIEW: "Der Strich ist gezogen"

Zwischen Markisen und Rollos steht Werner Castorf in seinem kleinen Laden an der Pappelallee. Nach 123 Jahren und drei Generationen ist Schluss.

Lässt die eigenen Rolläden bald für immer runter: Werner Castorf. Bild: Amélie Losier

taz: Herr Castorf, bei unserem ersten Treffen vor ein paar Tagen wollten Sie Ihren Jalousien-Laden in der Pappelallee aufmachen, aber das Gitter ging nicht hoch. Mussten Sie da lachen?

Werner Castorf: Nee. Zum Lachen war das nicht gerade.

Der Rollo-Händler scheitert am Rollladen, das ist doch komisch.

Durch die Zeitungsberichte, dass ich Räumungsverkauf mache, standen drei, vier Kunden davor und ich konnte nicht aufmachen. Der Motor war durchgeschmort. Man könnte natürlich sagen, der Laden wehrt sich (lacht). Aber das Ende ist vorgezeichnet. Der Motor ist inzwischen repariert.

Der Mensch: Werner Castorf wird 1921 in Berlin geboren. 1947 Hochzeit mit Ully Agnes, die aus der Modebranche kommt. 1951 wird Sohn Frank geboren, der heute Intendant der Volksbühne ist.

Der Laden: Castorf Eisenwaren wird 1889 gegründet. Albert Castorf verlegt das Geschäft 1899 von Friedrichshain nach Prenzlauer Berg. Sein Sohn Willy übernimmt 1920 das Geschäft an der Pappelallee, Ecke Stargarder Straße. Auch Lichtschutzanlagen kommen ins Sortiment.

Im Jahr 1957 steigt Enkel Werner ein und spezialisiert sich auf Jalousien. Der gelernte Kaufmann gründet eine OHG-Handelsgesellschaft und führt sein Geschäft in der DDR als privates Unternehmen fort. Nach der Wende räumen die Ostbetriebe ihre Lager und erfüllen erstmals alle Bestellungen. Waren aus der DDR will aber keiner mehr - bei Castorf stapeln sich die Vorräte. 2002 zieht er in die Pappelallee 36 um. Aber auch der kleine Laden rentiert sich nicht. Jetzt ist Räumungsverkauf - immer von Dienstag bis Donnerstag, 15-18 Uhr.

Der Betrieb Castorf existiert seit 123 Jahren.

Er hatte Tradition und war einer der größten. Unser Geschäft ging früher über die ganze Ecke Pappelallee, Ecke Stargarder. Acht Schaufenster, 2.000 Quadratmeter Lager. Das war sehr, sehr viel. Gerade zu Ostzeiten.

Was hatten Sie im Sortiment?

Für 150 Mark konnten Sie schon eine schöne Markise mit Stoff und allem Zubehör bekommen. Das war für Ostverhältnisse bezahlbar. Das war eigentlich der Schwerpunkt unserer ganzen Aufgabe: dass wir befriedigen konnten. Wunder waren natürlich nicht zu machen. Man konnte nur im Rahmen der normalen Produktionsmöglichkeiten beliefern. Es war vielleicht nicht immer das Modischste und Neueste. Aber die Qualitätsausführung hatte Gütestempel bei uns damals. In der DDR musste ja alles genehmigt werden. Wir haben auch Reparaturen gemacht. Es gab Zeiten, da hatten wir zehn Mitarbeiter.

Wie kann man sich die Farben und Stoffe vorstellen?

Ich habe noch Ersatzstoffe zum Ausbessern von Markisen da. Das fing bei Orange an und ging über Rot bis gestreift. Einfarbig sehr viele, aber auch mit Volant. Wir haben Stammkunden, die kaufen seit mehreren Generationen bei uns. Wenn es die nicht gäbe, hätten wir schon viel eher zumachen müssen.

Wie läuft der Resteverkauf?

Wir hatten Jalousien im Fenster für 50 Euro. Die haben wir auf 12,50 Euro runtergesetzt. Im Einkauf kosten die mich 30 Euro. In den letzten vier Wochen habe ich ganze drei Stück davon verkauft. Obwohl das mehr als billig ist - die Leute laufen vorbei. Der kleine Laden wird nicht wahrgenommen. Das war von Anfang an das Problem.

Wann genau sind Sie denn in den kleinen Laden umgezogen?

Das war 2002. Wobei der kleine Laden ursprünglich ein Teil des Lagers vom großen Laden war. Aber nach Aufgabe des großen Geschäfts haben sich die Leute gesagt: Der Castorf ist alt, er ist raus. Der existiert gar nicht mehr. Jetzt plötzlich, wo Räumungsverkauf ist und ein Schild im Laden hängt, da staunen sie, dass der doch noch da ist, nach 123 Jahren. Jetzt kommen plötzlich Leute und sagen: Was, Sie wollen aufhören? Wir brauchen Sie doch noch! Aber der Strich ist gezogen.

Sind Sie traurig?

Traurig? (Pause. Er schluckt) Es fällt mir schwer. Man hängt an einem Laden, den man so viele Jahrzehnte hatte. Mit dem die gesamte Familie verbunden war.

Betriebsgründung war 1889. Albert Castorf, Ihr Großvater, verlegte das Eisenwarengeschäft 1899 von Friedrichshain nach Prenzlauer Berg. Willy Castorf, Ihr Vater, übernahm den Laden 1920. Sie selbst führen das Geschäft seit 1957.

Ich war ja schon als Kind im Laden. Das man das als Letzter irgendwann aufgeben muss, war eigentlich klar. Meinen Sohn habe ich gar nicht in die Richtung drängen wollen. Erst mal von seinen Interessen her nicht. Zweitens wusste man zu Ostzeiten ja nicht, ob privater Handel auf Dauer zulässig sein wird. Damit, dass die DDR zusammenbricht, konnte man ja nicht rechnen.

Ihr Sohn Frank, der Intendant der Volksbühne, ist Ihr einziges Kind?

Ja. Wir haben nie Druck auf ihn ausgeübt. Er hat sich den Weg ganz allein gewählt, und heute würde man sagen, er ist oben. Er hat das wirklich mit Bravour gelöst. Dafür bewundere ich ihn. Wenn er eine Premiere hat, gehen wir natürlich hin. Wie sich das für Eltern gehört.

Nächstes Jahr inszeniert er in Bayreuth Richard Wagners "Ring des Nibelungen".

Das ist eigentlich die Spitze. Damit hat er erreicht, was jeder Regisseur innerlich haben möchte. Obwohl: Das ist kein leichter Beruf. Er kostet sehr, sehr viel Kraft. Aber wo ist es schon leicht?

Ist im Kiez bekannt, dass Sie Frank Castorfs Vater sind?

Ja, ja, sicher. Die Leute sprechen mich sehr viel auf meinen Sohn an. Der ist schon ein bekannter Mann, und da freue ich mich natürlich drüber.

Sie und Ihre Frau sind seit 65 Jahren verheiratet. Sind Sie beide nach wie vor bei guter Gesundheit?

Ach wissen Se. Ich werde jetzt 91, meine Frau ist zwei Jahre jünger. In unserem Alter sind schon Probleme da. Die sind unvermeidbar. Aber im Großen und Ganzen geht es. Sonst hätte ich auch nicht jeden Tag im Laden stehen können. In meiner Klasse - das war die Schinkel-Oberrealschule - waren 32 Schüler. Wir haben jetzt gerade vor acht Tagen ein Treffen gehabt. Wir sind nur noch drei. Es ist doch schon sehr gesiebt. In drei, vier Jahren werden Sie von uns Alten wohl keinen mehr vorfinden.

Von Ihrer Wohnung zum Laden sind es fünf Minuten Fußweg. Haben Sie immer in Prenzlauer Berg gewohnt?

Meine Eltern sind 1920 in die Wohnung über dem Laden eingezogen, wo vorher meine Großeltern gewohnt haben. Also die ganze Familie war in Prenzlauer Berg und ist heute hier. Eigentlich war der Prenzlauer Berg mit dem Wedding zusammen ein Arbeiterbezirk. Das hat nicht immer jedem gefallen. Aber Arbeiter waren auch kaufkräftig, wenn sie Geld hatten.

Wie hat sich der Prenzlauer Berg in Ihren Augen verändert?

Sehr, sehr viele aus dem Westbereich sind hierhergezogen. Die Mieten sind idiotisch hoch geworden. Trotzdem sind die Wohnungen verkauft. Es ist Mode geworden, hier zu wohnen. Das ist der Renner.

Was halten Sie davon?

Ach wissen Se, wir wohnen in einer Großstadt. Da kann ich mich nicht über Fluglärm beschweren. Wenn ich nicht in der Großstadt leben will, muss ich wegziehen. Wenn Leben da ist, wächst eine Stadt. Man kann zu Wowereit stehen, wie man will. Aber das ist eine große Leistung, an der er viel positiven Anteil hat.

Sie interessieren sich demnach für Politik?

Ja. Ich bin linksorientiert, darüber gibts gar keine Frage. Ich bin der Meinung, dass man sozialer sein muss, auch in der Verteilungsart. Jeder will der Größte sein und das meiste Geld verdienen. Wenn ich die Banken betrachte und sehe, was in Griechenland spekuliert wird, kann ich nur sagen: Das ist furchtbar, was man sich da bieten lassen muss.

Wie würden Sie Ihren persönlichen Lebensstil beschreiben?

Wir haben immer eher bescheiden gelebt. Ich bin keiner, der sich groß in Kneipen aufhält. Früher hat man sich getroffen, um in der Kneipe Verträge auszuhandeln. Da gabs Handschläge. Wenn einer gesagt hat, ich nehme 30 Stück, hat er die auch genommen. Heute sagt man Meeting und macht Riesenverträge mit Versicherungen und allem Drum und Dran, und dann wird es trotzdem nicht realisiert.

Was sind Sie für ein Mensch?

Ich könnte mir vorstellen, dass es schlechtere Menschen gibt als mich. Im Großen und Ganzen halbwegs ausgeglichen? (Guckt seine mit am Tisch sitzende Gattin fragend an) Kann man das so sagen, Frau Castorf? (Ully Castorf lächelt vieldeutig.) Also Otto Normalverbraucher, wenn Se so wollen. Aber das Schicksal insgesamt ist ja so, dass das Vorbereiten meistens gar nicht klappt, weil man überrascht wird von Problemen, die man vorher nicht erkennen kann.

Ist das Ihre Lebensphilosophie?

Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge mitgemacht. Das Schlimmste war der Krieg, darüber herrscht nicht der geringste Zweifel. Aber man muss versuchen, aus der gegebenen Situation das Beste zu machen. Dass es nicht immer in Erfüllung geht, ist das Zweite. Aber man muss versuchen, den Weg zu gehen - das macht mein Sohn ja auch. Er kam immer mehr nach meiner Frau, die auch aus dem künstlerischen Bereich kommt. Mode ist ja auch eine künstlerische Variante. Aber er hat auch ein bisschen von seinem Vater (lacht).

Wie würden Sie sich nennen - Händler?

Ich weiß nicht. Der Begriff sagt mir nicht allzu viel. Ich bin gelernter Kaufmann und Eisenwarenspezialist, und da fühl ich mich auch wohl. Und natürlich genauso gut im Bereich Sonnenschutz.

Sind Sie handwerklich sehr geschickt?

Arbeitsmäßig bin ich ein bisschen eingeschränkt. Ich habe eine steife Hand vom Krieg. Aber da gewöhnt man sich dran. Neben mir ist eine Granate eingeschlagen. Das war auf dem Rückmarsch von Russland. Am 1. Oktober 1944 in den Karpaten. Mein Vater hatte dasselbe. Bei ihm war es nur die andere Hand. Im Ersten Weltkrieg. Als ich in den Krieg gerufen wurde, habe ich zu ihm gesagt: Wenn ich so verwundet werde wie du, dann bin ich zufrieden.

In den 60er Jahren hatten Sie mal eine Begegnung mit dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Wo war das?

Wir hatten einen Großauftrag im Vogtland. Es ging um 60 Markisen, die an einem Sanatorium montiert werden sollten. Das hat uns natürlich gefreut. Irgendwann kam das Gerücht auf, dass einer von der Regierung kommt. Das ganze Krankenhaus unterstand der Regierung. Aber das wussten wir nicht. Hunderte von Angehörigen der Volksarmee, so hieß das bei uns damals, haben mit Stöcken stundenlang die Blumenanlage durchpflügt, um zu gucken, ob irgendwo Minen versteckt waren. Waren natürlich keene da. Aber da wussten wir, dass ein Großer kommt.

Wie nah sind Sie Ulbricht gekommen?

Erst mal kamen fünf Fahrzeuge, die Tschaikas vornweg. Das ist ein Führungsfahrzeug aus Russland. Aber da war gar keener drin. Walter Ulbricht stieg aus nem tschechischen Tatra in der vierten Position. "Nu", hat er gesagt (imitiert Ulbrichts sächsischen Dialekt) "alles gut?" Wir mussten dann natürlich weg. Ein ganzer Gang in dem Krankenhaus war für ihn belegt. Beim Mittagessen in der Kantine, wo das Essen ausgegeben wurde, habe ich seinen Vorkoster gesehen. Der trug Frack und dazu Militärstiefel. Sah auch komisch aus. Er hatte ein Tablett und mehrere Löffel, mit denen er von jedem einzeln gekostet hat, ob er nicht vergiftet wird.

Über ein wichtiges Thema haben wir noch nicht gesprochen: Ihr Verhältnis zum Auto.

Ja, ich war DDR-Meister im Rallyesport und im Orientierungssport. Das war Mitte der 60er bis Mitte der 80er Jahre. Da hab ich ungefähr 20 Urkunden bekommen. Das war schön. Ich hatte fünf Wartburgs und später zwei Dacia, vom Stil her ein französischer Wagen. Als ich dann den ersten westlichen Wagen in der DDR kaufen durfte, wurde mir anschließend bei der Rallye der Start verweigert, weil der Citroën, den ich hatte, ein kapitalistisches Fahrzeug war. Da war dann Schluss mit dem Sport.

Fahren Sie immer noch Auto?

Natürlich. Einen Mercedes A 170, mit dem transportiere ich meine Jalousien und Rollos. Wir haben ein Grundstück in Brandenburg, da sind wir jeden Sommer. Dazu braucht man ein Auto. Ich hatte in meinem Leben 21 Autos und habe alle Führerscheine, von Moped bis Lkw. 2011 habe ich sogar den Seniorenführerschein gemacht. Das ist freiwillig, die wenigsten alten Menschen machen das. Nach Meinung des Fahrlehrers habe ich gut bestanden. Ich fahre gerne schnell, wo es erlaubt ist. Die Strafzettel sind nicht wenig. Aber vor allem wegen der schwierigen Parkraumsituation.

Wie geht es jetzt weiter?

Wenn ich es nicht mehr schaffe sicher zu fahren - wenn ichs merke -, höre ich natürlich auf. Aber das würde mich dann sehr schwer treffen. Autofahren und der Laden - das ist mein Leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.