Piraten-Parteitag in Nordrhein-Westfalen: „Wir stehen nicht für Köppe“

Auf dem Parteitag der NRW-Piratenpartei gibt es Chaos, Eitelkeiten – aber auch Disziplin und sehr viel Basisdemokratie. Am Ende steht ein Spitzenkandidat für die Wahl im Mai.

Auszählungsmarathon: 56 Bewerber gab es allein für das Spitzenkandidatenamt. Bild: dpa

MÜNSTER taz | Ein Plakat der Linkspartei – das ist das Erste, was am Samstag in Münster vom Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Piraten zu sehen ist. „Piraten = Sozialräuber“ steht auf dem Transparent, das an einer Seite von Rüdiger Sagel festgehalten wird. Der einstige Grüne, der 2007 sein Mandat im Düsseldorfer Landtag zu den Linken mitgenommen hat, wird von einem Piraten bedrängt.

„Sie haben gerade dem WDR ein falsches Interview gegeben“, wiederholt der Mittzwanziger von den Piraten wie ein Sprechautomat immer wieder. „Ich soll hier vom Hof geworfen werden“, kontert Sagel – die Piraten finden Sagels Aktion direkt vor dem „Congress Saal“ der Halle Münsterland gar nicht lustig.

Der Linke redet über das bedingungslose Grundeinkommen, das die Piraten langfristig anstreben, über den angedachten Einheitssteuersatz von 45 Prozent für alle. „Untragbar gerade für Geringverdiener“ sei das, findet Sagel. „Das muss hier weg“, habe ihm ein Pirat mit Blick auf sein Transparent gedroht – dabei hätten selbst CDU und FDP in Münster solche Proteste toleriert. „Das ist also deren Verständnis von Meinungsfreiheit.“

Sagel und der Mittzwanziger versuchen, sich gegenseitig abzudrängen. Die Situation wird absurd: Am Ende beklagt der Pirat, Sagel habe „sein Hinterteil an mein Gemächt“ gedrückt. Deeskalierend wirkt erst Oliver Höfinghoff: Der sitzt für die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus und pfeift seine aufgeregten Parteifreunde vor der Tür zurück: „Jetzt sind wir wieder alle ganz entspannt“, sagt er – und guckt trotzdem besorgt.

Leicht nervös wirkt auch Achim Müller. Der 48-jährige IT-Fachmann ist Landessprecher der Piraten. Seit Tagen sorgt er sich, der Personalparteitag könne im Chaos enden – auch wenn Müller das so nie sagen würde. „Unorthodox“ könne die Veranstaltung werden, lässt er im Gespräch mit Journalisten stattdessen fallen.

Seit Wochen sitzt der Vater einer 16 Monate alten Tochter in seinem Arbeitszimmer im münsterländischen Rheine unter einem Poster aus Tarantinos „Pulp Fiction“, nutzt seine Elternzeit für Telefonate, schreibt Pressemitteilungen. Schwierig könne vor allem das „Kandidatengrillen“ werden, bei dem die Parteibasis ihre Kandidaten für den Landtag einer langen Befragung unterzieht. Er warnt. „Da kann es Mikrofonschlangen geben, das kann Stunden dauern.“

Angst vorm „Kandidatengrillen“

Sorgen macht Müller besonders die Menge der Kandidaten: Schon Tage vor dem Parteitag machen rund 40 Piraten klar, dass sie sich für die Spitzenkandidatur bewerben wollen. Bei Umfragewerten um die sechs Prozent halten viele den Einzug in das Landesparlament für sicher – der Piratentreff in Münster droht ein endloser Abstimmungsmarathon zu werden.

Im Saal aber gibt sich die Basis unerwartet diszipliniert. Routiniert werden Tages- und Wahlordnung beschlossen. Um die Wahlen zu beschleunigen, setzen die Piraten auf das „Approval Voting“, das Akzeptanzwahlverfahren: Gewählt wird in Listen „en bloc“. Auf dem Stimmzettel stehen Dutzende Namen, jeder Pirat hat ebenso viele Stimmen. Wer die meisten erhält, ist gewählt – wenn er die Unterstützung von mindestens 50 Prozent der Wählenden hat.

Man erlaubt sich nur ein kleines exzentrisches Extra: Im ersten Wahlgang soll kein Spitzenkandidat, sondern ein Spitzenquartett gewählt werden. „Wir stehen nicht für Köppe, sondern für Inhalte“, sagt einer in breitem Westfälisch.

Müller arbeitet im Foyer routiniert weiter. Immer wieder erklärt der Spezialist für „Linux Security“, der vor knapp 30 Jahren selbst Journalist werden wollte und bei den Piraten deshalb als Medienfachmann gilt, das Wahlverfahren. Müller telefoniert, gibt Kurzinterviews. Vor den Fotografen wirkt er fast schüchtern: „Ich muss wirklich nicht nach vorne“, wehrt der Sprecher ab – beim Schaulaufen der Kandidaten macht er nicht mit: „Für ein Mandat habe ich wirklich keine Zeit“, sagt Müller.

Über 50 Spitzenkandidaten

Im Gegensatz zu vielen wisse er, dass ihn dann eine Arbeitswoche von 70 Stunden und mehr erwarte. „Das geht nicht“, sagt Müller, der mit einer Apothekerin zusammenlebt: „Wir erwarten unser zweites Kind.“ Im Saal geht das Schaulaufen der Eitelkeiten unterdessen weiter. Mit der Entscheidung für ein Spitzenquartett ist die Zahl der Bewerber von 37 auf 56 hochgeschnellt. Jeder Kandidat hat drei Minuten Zeit, sich persönlich vorzustellen, viele produzieren dabei Kurioses: Der 52-jährige Alex Kraus erklärt, er betreibe „Landwirtschaft auf einer ehemaligen US-Raketenbasis in Selbstversorgung“.

Kärtchen hoch: Die Piraten brauchten kräftige Arme. Bild: dpa

Der ehemalige Jungdemokrat Peter Rath-Sangkhakorn wirbt für sich mit der Aussage, als Gewerkschafter stehe er gegen den Neoliberalismus – und habe sich ernsthaft in der „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD“ engagiert. Dafür wird Marc Olejak, parteiintern nur unter seinem Nickname „Grumpy old Man“ bekannt, von seinen Fans mit den Slogans „Ausziehen“ und „Ich will ein Kind von Dir“ begrüßt. „Ich will dahin, wo es wirklich wehtut“, kontert Grumpy – „in die Innenpolitik.“

Offenbar fürchtet auch die Basis den Abstimmungsmarathon – das drohende Kandidatengrillen fällt weitgehend aus. Gegrillt werden nur Piraten wie Mike Nolte. Dem wird vorgeworfen, Parteimitglieder „in Abwesenheit zu beleidigen“. Nolte verspricht Besserung: „Ich bin laut, vulgär und fluche viel“, räumt er ein. Einer Befragung stellen muss sich auch Hans Immanuel Herbers. Bei den Piraten, von vielen Naturwissenschaftlern geprägt und stolz auf ihr rationales Weltbild, ist Herbers wegen seines Berufs umstritten. Er ist Pfarrer.

Frauen sind bei den Piraten dagegen noch immer unterrepräsentiert: Von den 170 Kandidaten, die sich im Vorfeld auf der Parteihomepage um ein Mandat bemüht haben, waren nur 16 Frauen. Offiziell bleibt Geschlechterpolitik noch immer kein Thema: Kandidatinnen wie die ehemalige Parteichefin Birgit Rydlewski nennen sich selbst offensiv „Pirat“ – nicht „Piratin“. „Keine Ahnung“ habe sie, wie viele Frauen in der Partei seien, sagt die Lehrerin – das Geschlecht der Mitglieder wird nicht erhoben. „Als Frau wird man bei den Piraten aber nicht unfreundlicher behandelt als Männer“, versichert Rydlewski.

Plötzlich Spitzenkandidat

Nach stundenlanger Kandidatenvorstellung und langwieriger Stimmauszählung schnappt dann die Falle des „Approval Voting“ zu. Von den 56 Kandidaten hat nur Joachim Paul die erforderliche absolute Mehrheit der Parteibasis überzeugt. Der Physiker und promovierte Wissenschaftsmediziner wird sofort von Fernsehteams umringt. Er gilt plötzlich als Spitzenkandidat.

Ausgeträumt ist damit der Traum von einem den Personenkult verhindernden, inhaltsbetonten Spitzenquartett. „Bei den Piraten herrscht Basisdemokratie – deshalb ist absolut unvorhersehbar, wer wann gewählt wird“, hatte die aus Münster stammende politische Geschäftsführern Marina Weisband noch während der laufenden Abstimmung gewarnt. Weisband trägt auf dem Parteitag eine auffällige Halskette, an der ein QR-Code hängt. Die profane, aber lustige Botschaft: „Ich trinke Wodka. Ohne Eis. Danke.“

Eloquent wirbt Paul vor Kameras und Mikrofonen für die bildungspolitischen Vorstellungen der Piraten, die eine Schule für alle SchülerInnen und ein Ende des „Sitzenbleibens“ vorsehen. Den Printjournalisten diktiert Paul seine Sorge vor sozialen Unruhen in die Blöcke, kontert die morgendlichen Vorwürfe der Linken mit einem Verbot der schlecht bezahlten Zeitarbeit. Wirklich konkret werden kann Paul aber nicht. Um die nötigen Unterstützerunterschriften zusammenzubekommen, haben die Piraten das Personal vorgezogen – das Programm wird erst Mitte April in Dortmund diskutiert.

Ungewollt diskreditiert wird so der NRW-Parteichef Michele Marsching. Der Vorsitzende, der selbst gern Spitzenkandidat geworden wäre, ist in der ersten Runde mit 48 Prozent knapp durchgefallen. Während Paul erste inhaltliche Positionen einzieht, steht Marsching vor der verschlossenen Tür des Presseraums, die irgendwer von innen abgeschlossen hat.

„Der Schwarm macht auch mal Fehler“

Nein, er sei nicht enttäuscht, erklärt Marsching später. Bei der „populistischen“ Entscheidung, statt eines Spitzenkandidaten ein Quartett zu wählen, seien eben „die Regeln nicht richtig erklärt worden“, sagt der Parteichef – die Piraten hätten schlicht nicht genug Kreuze auf ihre Stimmzettel gemacht. „Der Schwarm macht auch mal Fehler“, sagt er und klingt doch enttäuscht. Der Parteichef bringt sogar Müller in Erklärungsnöte: Während der Sprecher kommuniziert, man habe jetzt doch einen Spitzenkandidaten, beharrt Marsching weiter auf dem gleichberechtigten Quartett.

Für Probleme sorgt das „Approval Voting“ auch am Sonntag. Gegen Mittag sind noch immer keine weiteren Kandidaten gewählt – stattdessen diskutiert der Parteitag sogar ein Aus der gesamten Wahlordnung. Viele fürchten, noch bis Abend kein Ergebnis zu haben.

Nur mit Mühe kann der Vorstand verhindern, dass der Parteitag ins Chaos abrutscht. Müller muss schon wieder das Unmögliche verkaufen: „Spätestens in zwei, drei Stunden haben wir weitere Kandidaten“, sagt er am frühen Nachmittag. Er lacht trotzdem. „Und am Abend feiern wir dann den Einzug der Piraten in den saarländischen Landtag.“

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