Regisseur Bertrand Bonello: „20 mal am Tag Geschlechtsverkehr“

„Haus der Sünde“-Regisseur Bertrand Bonello über das Bordell im Paris des Fin de Siècle, Realität und Fantasie sowie Tränen aus Sperma.

„Die Mischung aus einem Realitätsrest und einem Traumbild hat mir sehr gefallen.“ Szene aus „Haus der Sinne“. Bild: Arte France Cinema

taz: Herr Bonello, Ihr Film spielt fast ausschließlich in einem großen Haus, einem Bordell namens Apollonide. Wie sind Sie vorgegangen, um diesen Raum zu gestalten?

Bertrand Bonello: Die Frage, wie ich mit dem Raum umgehen würde, war ein wesentlicher Antrieb, diesen Film zu drehen. Als ich mir das Bordell vorstellte, hatte ich die Intuition, dass ich den Raum wie ein Gehirn anlegen könnte. Das heißt: Eine Bewegung von einem Zimmer in ein anderes ist physisch und mental zugleich, Es gibt ja keine Fenster, oder besser: Die Vorhänge sind immer zugezogen. Für mich und meine Wünsche ans Kino war das eine fantastische Gelegenheit.

Es gibt nur zwei Sequenzen, die nicht in den Mauern des Bordells spielen. Dienen sie dazu, das Hermetische des Orts zu unterstreichen?

Im Grunde ja. Die Sequenz in der Mitte des Films, die Landpartie, wurzelt in meinen Recherchen; ich fand heraus, dass eine Bordellbetreiberin einmal im Monat mit den Prostituierten aufs Land fuhr, damit sie ein bisschen frische Luft schnappen konnten. Ich habe mir den Film ja als Gefängnisfilm vorgestellt, und wenn man nach einem kurzen Ausflug zurückkehrt, wird umso klarer, wie wenig Luft zum Atmen man drinnen hat. Und die Szene am Ende …

eine Prostituierte geht auf dem Straßenstrich im heutigen Paris auf und ab …

Mir ging’s dabei nicht um einen Vergleich zwischen gestern und heute. Der zweite Teil des Films hat ja etwas von einem Traum, etwas Hypnotisches. Wie aber kommt man da wieder raus? Indem man sich wieder der Wirklichkeit zuwendet. Deswegen diese Szene aus der Gegenwart, mit Video gedreht.

Der französische Filmemacher ist 1968 in Nizza geboren. Zu seinen Spielfilmen zählen „Le Pornographe“ (2001), „Tiresia“ (2003) und „De la guerre“ (2008). „LApollonide - souvenirs de la maison close“ lief im vergangenen Jahr im Wettbewerb von Cannes.

Wenn man ein solches Gestern filmisch rekonstruiert, geht es ja nicht nur um Inneneinrichtung und Kostüme, sondern auch um Gedankenwelten, Fantasien und Geisteszustände. Wie haben Sie das Immaterielle rekonstruiert?

Was ich nicht getan habe, war, sechs Monate zu recherchieren und dann die Geschichte zu schreiben. Ich habe beides gleichzeitig gemacht, denn es war mir wichtig, dass sich die Wirklichkeit von der Vorstellung nährt und umgekehrt die Vorstellung von der Wirklichkeit. Also habe ich morgens am Buch geschrieben und nachmittags recherchiert. Die affektive Ebene des Films und die Traumsequenzen gehen Hand in Hand mit konkreten Informationen – um welche Zeit essen die Frauen? Was essen sie? Wo und wie waschen sie sich?

Die Lichtsetzung war Ihnen sehr wichtig, nicht wahr?

Normalerweise kommt das Licht ja durch die Fenster, aber weil die Vorhänge immer zugezogen sind, mussten wir selbst erfinden, woher das Licht kommt und woher nicht. Das ist künstlicher, aber auch schöner. Die Kamerafrau Josée Deshaies hatte diese Idee, dass das Licht aus den Frauen kommen sollte. Das war natürlich nicht möglich, aber sie erfand eine Konstruktion von vielen kleinen Lichtquellen an der Decke, die sie an einem Mischpult steuern konnte, so dass sich das Licht bewegte, und das gab manchen Szenen etwas Unwirkliches.

In einer Szene agiert eine Prostituierte auf Wunsch des Freiers wie eine Puppe. Das ist etwas, was tief in den Imaginationen des 19. Jahrhunderts wurzelt – diese Faszination für Puppen, diese Unsicherheit: Steckt nicht vielleicht doch Leben darin?

Eine Puppe ist sehr schön, aber sie flößt auch Angst ein. Deswegen sieht man sie so oft in Horrorfilmen. Was ich an dieser Sequenz mag, ist, dass sie so viel über das Verhältnis von Freier und Prostituierter aussagt – viel mehr als eine Fake-Sexszene unter der Bettdecke. Denn die Frau ist hier ein Objekt, aber zugleich kann man überhaupt nicht wissen, was in ihr vorgeht.

Ihr stierer Blick während des Geschlechtsverkehrs ist frappierend.

Adèle Haenel, die Darstellerin, bekam deswegen die Rolle. Beim Casting fielen mir ihre Augen auf; ich bemerkte, dass sie zwei Minuten starren konnte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Da wusste ich: Sie ist die Richtige.

Es gibt noch etwas in Ihrem Film, was tief in der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts wurzelt – das Buch, in dem Schädelumfang und Wesen der Prostituierten zueinander in Bezug gesetzt werden, ein Beleg für das positivistische Denken der Zeit.

Damit hat man heute ja auch wieder zu tun. Während meiner Recherchen bin ich auf das Buch gestoßen, es war schockierend und faszinierend – wie die Wissenschaft daherkommt und behauptet, etwas erklären zu können, womit die Gesellschaft nicht zurechtkommt. Und heute sagt unser Präsident, man könne einem Anderthalbjährigen ansehen, ob er mal ein böser Kerl wird oder nicht. Das macht doch Angst!

Sie verwenden viel Mühe darauf, darzustellen, wie elaboriert die sexuelle Kultur in diesem Bordell ist, hatten Sie nicht Sorge, das zu idealisieren?

Das ist eine Frage der Perspektive, des Kamerastandpunkts, der Montage – die Idee war, so dicht wie möglich an die Frauen heranzukommen, sich ihrer Perspektive zu verschreiben, und das bedeutet: Es gibt nichts zu idealisieren.

Dementsprechend machen Sie recht viel von den zerstörerischen Effekten der Prostitution anschaulich.

Das habe ich zumindest versucht. Als ich den Film vorbereitete, las ich Briefe und Tagebücher, und das half. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass ich Prostitution verstehen würde – dazu ist die Sache einfach zu kompliziert, und wenn die einen sagen, Prostitution sei fantastisch, und die anderen, sie sei schrecklich, dann ist das zu simpel. Vom Wesen der Prostituierten geht ja eine große Faszination aus; so viele Gemälde porträtieren Prostituierte; das Kino gibt es seit 1895, fünf Jahre später hat man den ersten Film mit einer Prostituierten; sie ist eine starke Figur für Fiktionen. Man kann sich ihr sehr nahe fühlen, man bezahlt, sie ist da, aber zugleich gibt es dieses Geheimnis: Wie geht das? Was geht in ihrem Kopf vor sich?

Die Briefe und Tagebücher stammten von Frauen, die um 1900 herum als Prostituierte arbeiteten?

Ja, und die drei Briefe, die im Film vorkommen, hätte ich mir niemals ausdenken können. Weder den von dem Mädchen, das schreibt: „Hallo, ich bin 15 1/2, ich möchte mich Ihnen anschließen, anbei finden Sie einen Brief meiner Eltern“, noch den von der Bordellbetreiberin, die schreibt: „Herr Polizeipräsident, wie soll ich meine Kinder erziehen, wenn ich mein Haus schließen muss?“ Ich wäre nie darauf gekommen, dass eine Bordellbetreiberin zwei kleine Kinder großziehen könnte, aber als ich diesen Brief fand, wurde mir klar: Die ist ja nicht mehr 16, sondern 45, und natürlich hat sie Kinder. All das geht auf Recherchen zurück, auch der Brief, den im Film Jacques Nolot an die Frau schreibt, die an Syphilis stirbt – er stammte von einem Freier.

Da Sie Jacques Nolot erwähnen – er ist ja nicht der einzige Schauspieler in Ihrem Film, der auch Regisseur ist …

Es gibt insgesamt sieben, und der Off-Kommentar wird von Pascale Ferran eingesprochen.

Das ist doch kein Zufall, oder?

Am Anfang war es Zufall, am Ende eine Entscheidung. Als ich Noémi Lvovsky und Xavier Beauvois fragte, tat ich das, weil sie mir als Schauspieler gefallen. Aber dann habe ich versucht, die Sache weiterzutreiben, um zu sehen, ob sie etwas zu sagen hat. Und vielleicht sagt sie etwas über das Kino, über das Verhältnis von Regisseuren und Schauspielern, das dem von Freiern und Prostituierten gleicht.

Weil die Frauen die Fantasien eines anderen nachspielen und das den Freier in die Rolle eines Filmemachers bringt, der andere in seiner Mise en Scène agieren lässt?

Es ist nah dran am Theater. Immer wenn die Schauspielerinnen nicht weiterwussten, habe ich vom Theater gesprochen, das dem Bordell ähnelt, mit der Hinterbühne, der Bühne, der Bordellbetreiberin als derjenigen, die die Mise en Scène besorgt, und den Freiern als Publikum.

In einem Traum weint Madeleine, eine der Prostituierten. Aus ihren Augen rinnt Sperma. Wie sind Sie darauf gekommen?

Ich schrieb zuerst die Szene, in der sie von dem Traum erzählt, zunächst also brauchte ich das Bild noch gar nicht. Dann erst schrieb ich die Szene, in der man die Spermatränen sieht. Was ich daran mag, ist, dass es ein symbolisches, fast heiliges Bild ist, in dem aber zugleich viel Wirklichkeit steckt. Denn wenn man fünfzehn-, zwanzigmal am Tag Geschlechtsverkehr hat, will man doch irgendwann weinen. Aber was? Man hat keine Tränen mehr. Was hat man in sich drin? Sperma. Die Mischung aus einem Realitätsrest und einem Traumbild hat mir sehr gefallen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.