Bitteres Begehren

Pädophile gelten oft automatisch als Kinderschänder. Eine psychologische Betreuung findet erst hinter Gittern statt, eine spezielle Therapie gibt es nicht. Ein Pilotprojekt in Berlin will das jetzt ändern

VON CORNELIA GELLRICH

Herr P., der in Wahrheit nicht so heißt, ist Anfang 50 und lebt im Ruhrgebiet. Seit einem Jahr fährt er jeden Dienstag nach Berlin, dem einzigen Ort in Deutschland, wo ihm geholfen werden kann. Dort lässt Herr P. seine Fantasien therapieren. Aus eigener Erfahrung kennt Herr P. nicht, wovon er träumt. Er hat noch nie seiner Erregung nachgegeben und ein Kind, das ihm gefiel, berührt. „So was macht man einfach nicht“, das wusste er schon immer.

„Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen liebt ist?“, warb 2004 das Institut für Sexualmedizin an der Berliner Charité für sein bislang einzigartiges Forschungsprojekt „Zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld“ potenzielle und reale Täter an. Mehr als 500 Männer meldeten sich zur „Dissexualität-Therapie“, 170 davon, unter ihnen Herr P., begannen die auf ein Jahr angelegte Therapie 2006, 100 sind noch übrig, 50 weitere beginnen jetzt in diesem Frühjahr.

Nur diejenigen werden behandelt, bei denen tatsächlich eine pädophile Neigung in den Vorgesprächen erkannt wird. Viele befürchten, pädophil zu sein, interessieren sich aber in Wahrheit nur für Kinder als Ersatzobjekte, weil sie einer gleichberechtigten Beziehung zu einem Erwachsenen nicht gewachsen sind. Lediglich drei Frauen waren dabei, von denen, wie sich im Gespräch herausstellte, keine tatsächlich pädophil war.

Herr P. spricht über sein Begehren. Er trägt Schwarz und fühlt sich auch so. Er wirkt ruhig, introvertiert. Er mag Mädchen. Zwischen zehn und zwölf sollten sie sein, in jedem Fall vor der Pubertät. Dünn möchte er sie haben, und „es muss ihnen anzusehen sein, dass sie aus etwas schlechteren sozialen Verhältnissen stammen, so wie ich ja auch, das stellt dann so was Vertrautes her“, erklärt Herr P. Sie müssen groß sein, denn Herr P. möchte ihnen nicht wehtun, und „je größer sie sind oder erscheinen, desto einfacher würde es mir fallen, mir in der Fantasie auch eine sexuelle Handlung vorzustellen“.

Aber es ist nicht nur Sex, den Herr P. sich erträumt. Er würde gerne ein Mädchen aufziehen, so etwas wie eine Vater-Tochter-Beziehung leben, mit erotischer Komponente. Er beschützte dann das Kind, umsorgte es. In einer seinen Fantasien kommt das Mädchen nass und durchgefroren vom Regen zu ihm, er steckt es in die Badewanne, wäscht, wärmt es, scherzt und albert mit ihm. Aus dieser lockeren Atmosphäre heraus ergibt sich ganz natürlich der Oralverkehr, bei dem das Kind passiv genießt, ohne genau zu wissen, was das ist, was da gerade mit ihm passiert.

Mittlerweile baut Herr P. die Therapie in seine Fantasie ein: Er erklärt dem Mädchen, dass er ein Problem habe, dass er sich nach eigentlich verbotenen Körperkontakten zu Kindern sehne. Das Mädchen in seinem Kopfkino versteht ihn und versichert, es wäre ihm durchaus recht, wenn er seine unrechten Triebe an ihm auslebte. Skrupel und Loslassen führen so eine Koexistenz.

Gemeinhin herrsche zwar die Ansicht, Pädophile wollten Kinder missbrauchen, sagt der Psychologe Christoph J. Ahlers, einer der Therapeuten. Doch seiner Erfahrung nach sei das Problem komplexer. „Die meisten wünschen sich Hilfe bei ihrer lebenslangen Aufgabe, der eigenen Neigung nicht nachzugehen.“

Je klarer die Wirklichkeit gesehen wird, so die klinische Erfahrung der Sexualmediziner, desto leichter fällt die Eigenkontrolle. Also werden verzerrte Wahrnehmungen der eigenen Realität korrigiert, beispielsweise die Vorstellung, das Kind selbst habe den ersten Schritt gemacht, geflirtet, die körperliche Nähe gesucht. Oder die Hoffnung, dieses eine Kind zu finden, mit dem eine beidseitig erwünschte erotische Liebesbeziehung möglich wäre. Am schwersten fällt es den meisten Patienten, einzusehen, dass sie niemals ihre Lust auf Kinder loswerden können. Sie müssen lernen, damit zu leben, ohne Leid zu schaffen, weder den Kindern noch sich selbst.

Die konkreten sexuellen Vorlieben Pädophiler sind genauso vielfältig und unterschiedlich wie die aller Menschen. Trotzdem scheint überdurchschnittlich oft Befriedigung aus der aktiven Rolle gezogen zu werden, ist das Stimulieren des eigenen Körpers für viele nicht notwendig und auch nicht die Penetration. Insgesamt zeichne sich „das Bild eines genital zurückgenommenen Erwachsenen ab“, schreibt Horst Vogt in seiner gerade erschienenen Studie zur Pädophilie. Vielleicht liegt der Grund hierfür in einer Selbstzensur noch in den Träumen, die nach für das Kind möglichst schmerzfreien Formen der Erotik sucht. Vielleicht tritt die Lust am Lustmachen einfach nur etwas häufiger unter Pädophilen auf, weil das Bild des Gegenübers, das ja gewisse Kriterien erfüllen muss, besonders wichtig ist.

Der Wunsch nach Liebe, nach Nähe jenseits des Sinnlichen ist im Pädophilen genauso tief verankert wie in jedem anderen auch. Zwar begeistert der kindliche Körper, aber das Wesen steht im Vordergrund. Die Neugier des Kindes, seine Hilflosigkeit. Sein Übermut und seine Zutraulichkeit. Seine Spontanität und Schutzbedürftigkeit, seine Abenteuerlust. An Jungen wird laut Vogts Studie von Pädophilen geschätzt, dass sie oftmals etwas keck sind. Mädchen sollten das nicht sein.

Sexualität steht an zweiter Stelle, vorrangig ist die Sehnsucht nach einer liebevollen, intensiven Beziehung. Den starken Instinkt zur Fürsorglichkeit weckt das Kind, dieser wird begleitet von sexuellem Verlangen. Wie das aussehen kann, wenn jemand den Schritt vom Traum in die Realität, über die Grenzen des Gesetzes und der Moral hinaus, von der Liebe zum Besitzanspruch und ins Verborgene hineingeht, das hat der Journalist Manfred Karremann beschrieben, der 2003 für den Stern und das ZDF ein Jahr lang in Deutschlands Pädophilenszene recherchierte. Er traf Männer, die den Kindern offiziell nur ein väterlicher Freund waren. Der Erwachsene holt das Kind von der Schule ab, trägt seinen Ranzen. Es wird bei McDonald’s gegessen, Gokart gefahren, die Hausaufgaben werden erledigt. Was man eben so macht, mit Kindern. Ergänzt durch Berührungen unter der Dusche, im Bett. Durch Onanieren über dem Kind, wenn es schläft. Nach Karremanns Erkenntnissen eignen sich Unterschichtskinder besonders gut für die Erfüllung pädophiler Bedürfnisse, da ihre Familie, ihr soziales Umfeld wohl oft weniger aufmerksam sind.

Der Anteil pädophiler Männer am sexuellen Missbrauch von Kindern liegt laut Horst Vogts Studie bei nur ein bis fünf Prozent. Den großen Rest der Übergriffe begehen Sadisten oder Ersatzobjekttäter, die sich nach einer Beziehung zu einem erwachsenen Partner sehnen, aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage dazu sind.

Herr P. war ungefähr acht Jahre alt, als ihm durch Gespräche mit Gleichaltrigen dämmerte, was mit ihm los war, dass jüngere Kinder ihn erregten, und dass das nicht normal ist. Als Ende der Sechzigerjahre der Fall des Jürgen Bartsch, der vier Jungen vergewaltigt und zu Tod gequält hatte, durch die Presse ging, identifizierte sich der inzwischen jugendliche Herr P. mit ihm. Er fand es schockierend, einem Serienmörder zu ähneln, aber es war auch gut, endlich einen Begriff für das bislang namenlose Furchtbare zu haben, das in ihm war. Inzwischen hat er gelernt, dass er mit dem Mörder Bartsch rein gar nichts zu tun hat.

Was ihn zur Verzweiflung brachte, fast sein ganzes Leben lang, war die Unmöglichkeit, sich mitzuteilen, sich auszutauschen. Er kam nicht gegen das Schweigen an, das das Tabuthema Kindesliebe in der Unsichtbarkeit festhält. Wenn sein Trieb ihn nicht quälte, quälte ihn die grauenvolle Vorstellung, das einzige Monster auf Erden zu sein, einer, der etwas Böses beheimatet in seiner Seele, von dem niemand auch nur etwas ahnen darf.

Google liefert ungefähr 189.000 Ergebnisse zum Suchbegriff „Pädophilie“. Darunter finden sich allerdings viele Seiten, mit denen Herr P. nichts anfangen kann, weil auf ihnen Pädophilie und der Schaden, den Kinder durch sexuelle Übergriffe Erwachsener nehmen, verharmlost werden. Da gibt es Seiten wie girlloverforum.net. Die Startseite ziert das Bild eines Steinbodens, auf den mit weißer Kreide ein Herz gekritzelt wurde, ein Schmetterling – das Zeichen der Pädophilenbewegung – und diese Käsekästchen, die Kinder für Hüpfspiele benutzen. Die Seite richtet sich an Menschen mit „einem breit gefächerten Interesse an vorpubertären und pubertären Mädchen“.

Die Website von „Butterfly Kisses“, auch bekannt unter dem Namen „The International Female Girllover Collective“, eröffnet mit einem Foto, das Bodylotions oder Waschmittel bewerben könnte: Eine junge Frau in weißem Bademantel hält ein kleines, selig lächelndes Mädchen im Arm. Sie haucht einen Kuss auf seine Schläfe. Ein großer Schmetterling schwebt über die untere Ecke des Fotos. Butterfly Kisses richtet sich an Frauen, die Mädchen lieben. Selbsterklärtes Ziel der Organisation: „unsere Gesellschaft dazu zu bringen, offen gegenüber der emotionalen und erotischen Anziehung zwischen Frauen und Mädchen zu sein“. Dazu gibt es auch noch ein Foto vom Mädchen des Monats.

Das latente Unwohlsein, das sich beim Betrachten dieser kitschig-schmusigen Seiten einschleicht, wird verstärkt, gelangt man zur Seite der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS), die Selbsthilfegruppen für Pädophile und andere Menschen mit abweichenden sexuellen Präferenzen organisiert. In einem 1999 zuletzt aktualisierten und immer noch auf ihrer Homepage zu findenden Positionspapier begehrt die AHS gegen das geltende Sexualstrafrecht auf, das „die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse bestimmter Menschengruppen pauschal unterdrückt“. Mit diesen „bestimmten Menschengruppen“ meint die AHS Pädophile, aber auch Kinder, die sich laut AHS durchaus von Erwachsenen sexuell angezogen fühlen können.

Doch Kinder können, so die Ansicht der Charité-Ärzte, niemals wissentlich und willentlich und demzufolge auch nicht frei sexuellen Aktivitäten zustimmen. Die AHS fordert die Aufhebung des Verbots von Sex zwischen Kindern und Erwachsenen, da sie an die Möglichkeit nichtschädigender, gleichberechtigter und einvernehmlicher intergenerationaler Sexualität glaubt. Herr P. lernt in der Berliner Charité etwas Anderes. Weil das Kind nicht nur willentlich, sondern auch wissentlich an der sexuellen Handlung teilnehmen müsste; und wie weit es her ist mit dem kindlichen Wissen über Sexualität und Erotik, ist fraglich.

Für Professor Beier und seine Kollegen fällt unter sexuellen Missbrauch jede Handlung an oder mit einem Kind, die der Stimulierung oder Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse eines Erwachsenen dient, auch wenn es sich dabei nur um Händchenhalten oder Haareordnen handelt. Deshalb lautet ihre Losung strikt: Hands off! Das Pilotprojekt „Prävention im Dunkelfeld“ will Pädophile nicht umpolen, denn eine Veränderung der sexuellen Präferenz, die sich spätestens in der Pubertät festigt, ist nicht möglich. Zu schaffen ist aber nach Einschätzung von Professor Beier und seinem Team eine vollständige Verhaltenskontrolle. Darüber hinaus sollen außerdem psychische Sekundärschäden gelindert werden. Die meisten Pädophilen leiden unter Depressionen, Ängstlichkeit, paranoidem Denken. Dazu kommen Einsamkeit, Soziophobie, Suchtverhalten.

Sylvia Tanner von der Beratungsstelle für Pädophile und deren Angehörige in der Schweiz glaubt, ihre Klienten seien wichtige Stützen der Gesellschaft. Sie könnten Minderjährigen als erwachsene Bezugspersonen dienen, da ihre Liebe zu sehr jungen Menschen, ihre Geduld, ihr Empathievermögen sie zur Kinder- und Jugendarbeit prädestinierten. Herr P. sieht das anders. Er konnte den von seinem Vormund ausgewählten Beruf des Erziehers nicht lange ausführen. Seine Angst vor sich selbst war zu groß, seine wahnsinnige Panik, etwas Schreckliches zu tun, was sich nie wieder gut machen lassen würde. Denn, das war ihm klar, auf legale Weise käme er an ein Kind zum Aufziehen und Streicheln nie heran. Außerdem setzte die ständige Übermacht seines Triebes Herrn P. gerade in jungen Jahren gewaltig unter Stress. Alles drehte sich um den Sex, der nicht stattfand. „Unglaublich anstrengend war das, den ganzen Tag über vom Anblick der Kinder erregt zu werden, immer wieder auf die Toilette rennen zu müssen, um sich die Last, den Druck zu nehmen.“

Herr P. begab sich auf die lebenslange Flucht vor der eigenen Lust. Um weniger Kinder zu Gesicht zu bekommen, verabschiedete er sich von der Pädagogik und arbeitete als Hilfskraft in diversen Jobs. Jetzt ist er arbeitslos. Wenn sich im Bus Kinder neben ihn setzen, steht er auf und sucht sich einen anderen Platz. Dann lachen ihn die Kinder manchmal aus. Seine Ehe ging nach zwanzig Jahren in die Brüche. Mit seiner Neigung konnte seine Frau zwar leben, nicht aber mit seiner Schwermut.

Herr P. nahm jahrelang Trevilor gegen die Depression und nimmt im Rahmen des Präventionsprojektes jetzt auch Androcur zur Triebdämpfung. Er verträgt beides nicht. Nach der Trennung versuchte er, eine „Kindfrau“ von knabenhafter Figur zu begehren, klein, zierlich, schutzbedürftig. Das klappte so halbwegs, war aber letztlich nur notdürftiger Ersatz. Herr P. würde gerne eine Partnerschaft mit einer Frau eingehen, er weiß nur nicht, wie das gehen soll, mit seiner Lust auf Mädchen. Und die will er nicht mehr verheimlichen.

Vierzig Jahre lang Theater gespielt zu haben ist mehr als genug für ihn. Nur macht es ihm die Gesellschaft nicht leicht, zu zeigen, wer er ist. Steht etwas in der Zeitung über Pädophile, dann hört er aus seiner Umgebung sofort Sprüche wie: „Wenn ich so einen in die Finger kriege!“, und es packt ihn die nackte Angst. Also trifft er einfach immer weniger Menschen, die ihn ja eh nicht verstünden, deren Sympathie vielleicht ganz schnell in Hass umschlagen könnte. Herr P. lebt völlig isoliert. Eine Woche lang die eigene Stimme nicht zu hören ist für ihn nichts Ungewöhnliches.

Herr P. hatte jahrelang keinen Spiegel, weil er sein eigenes Abbild nicht ertrug. „Durch die Therapie“, erzählt Herr P., „ist es mir irgendwann gelungen, mich nicht mehr als perverses, sondern nur noch als armes Schwein zu fühlen. Aber das hat nur ein paar Tage funktioniert.“ Ironischerweise fällt es Herrn P. zunehmend schwer, seine Fantasie zu füttern. Mädchen von acht, neun Jahren, die noch richtig kindlich sind, werden seltener.

Um die Kindheit zu schützen, muss die Gesellschaft endlich umdenken. Das politische und finanzielle Engagement darf sich nicht allein auf die Bestrafung von Tätern reduzieren. Es muss vorgesorgt werden. Der Unterschied zwischen Kinderschändern und Pädophilen muss deutlich gemacht werden. Dass manche Pädophile die Legalisierung von Sex mit Kindern fordern, ist dabei nicht sehr hilfreich. Konstruktiver wäre es laut Christoph Ahlers, endlich Psychotherapeuten für die Behandlung von Pädophilen auszubilden. Er träumt von einem flächendeckenden Versorgungsnetzwerk ähnlich dem, das zur Eindämmung von HIV gespannt wurde. Dafür müsste nur, so Ahlers, die Gesellschaft Sexualität endlich auch als Teil der Gesundheit ansehen. Das würde auch die Sicherheit von Kindern erhöhen.

CORNELIA GELLRICH, Jahrgang 1980, lebt als freie Autorin in Berlin