Datenbank zu toten Flüchtlingen: Immerhin gut gemeint

„Migrant Files“ ist eine datenjournalistische Seite, die die permanente Flüchtlingskatastrophe visualisieren will. Dabei fällt sie hinter bestehende Projekte zurück.

Der Brennpunkt Mittelmeer in der Visualisierung der „Migrant Files“. Tabelle: http://www.detective.io/detective/the-migrants-files

BERLIN taz | Am Anfang steht nur „a baby“, namenlos, 65 Einträge. Alphabetisch geht es weiter: „A child“, anonym, über 600 Einträge. Namenlose Frauen und Männer, hoch bis etwa 12.000. Erst danach haben die Toten auf der Liste der „Migrant Files“ Namen. 23.000 sollen es insgesamt sein, bei weitem nicht alle sind in der Online-Datenbank aufrufbar. Sie alle sind seit dem Jahr 2000 gestorben, während sie versuchten, nach Europa zu gelangen.

Die Mehrzahl von ihnen ist ertrunken, Hunderte starben an Hunger oder Durst, an Kälte oder Unterkühlung, erstickten in LKWs oder beim Überqueren von Minenfeldern. Eine Gruppe von Journalisten präsentierte die Liste am Montag, viele europäische Medien berichteten über die erschütternde Statistik - auch, weil die von den Migrant Files genannte Zahl bisherige Schätzungen um mehrere Tausend übersteigt.

Allerdings handelt es sich bei dem Datenbankprojekt um wenig mehr als einen verdünnten Neuaufguss der beiden schon bislang existierenden Dokumentationen der Toten an den EU-Grenzen: Die „List of Deaths“ (pdf), in der die Amsterdamer NGO United against Racism seit 1993 bislang Berichte über 17.306 Todesfälle an den EU-Außengrenzen zusammen getragen hat.

Und die Datenbank des von dem italienischen Journalisten Gabriele del Grande gegründeten Blogs „Fortress Europe“, der auf Basis von Zeitungsberichten und Zeugenaussagen 19.000 Todesfälle seit 1988 dokumentiert hat. Beide arbeiteten ehrenamtlich, und erfüllten eine Aufgabe, die staatliche Stellen und die EU verweigern: Die Toten der Festung Europa werden offiziell nirgends erfasst.

Das Migrants Files-Projekt führte nun nach eigenen Angaben die Daten dieser beiden Projekte zusammen und ergänzt sie unter anderem um Daten der Universität von Helsinki und der EU-Kommission, gibt aber keine näheren Auskünfte, um welche Daten es sich dabei gehandelt hat. Die Mühe, einzelne Interviews mit Überlebenden zu machen, hat sich das Data-Mining-Projekt jedenfalls nicht gemacht – die Recherche lief rein digital. Studierende eines Data-Journalismus-Studiengangs an der Universität von Bologna waren mit dem „Fact Checking" von 250 Fällen beteiligt.

Fehlerhafte Verarbeitung

Das Ergebnis fällt deutlich hinter die Standards der Vorbilder zurück. Während sowohl bei United als auch bei Fortress Europe – soweit bekannt – Informationen zu den näheren Umständen des Todes und der genauen Herkunft der MigrantInnen zu finden sind, beschränken sich die Migrant Files auf den nackten Namen Todesort und -datum sowie einer Art grafische Querverweisblüte, die jedoch nicht anklickbar ist.

Zudem wurden die existierenden Daten überaus nachlässig importiert. Etwa der Fall des Senegalese Mamadou Konte. Tatsächlich ist der am 22. April 2007 gemeinsam mit 26 weitere Senegalesen vor Marokko ertrunken. Die Migrant Files verlegen seinen Tod in die süd-senegalesische Stadt Kolda, in der Konte aber nicht starb, sondern geboren wurde. Offensichtlich haben die Programmierer die Ursprungsdaten falsch eingelesen.

Ähnlich bei dem Marokkaner Khalid Moufaghid, der im Juni 1995 im italienischen Murazzi totgeprügelt wurde - die Migrant Files verlegen seinen Tod ohne weitere Angaben auf ein „Event at Malaga on Aug 06, 2000“ – mit der Vokabel werden alle der gelisteten Todesfälle belegt. Solche Fehler finden sich in der optisch aufwendig programmierten Datenbank zuhauf.

Substanziellere Daten sind gleichwohl in Sicht, wenn auch an anderem Ort: In den nächsten Monaten wird United die jährliche Aktualisierung seiner manuell zusammen getragenen Fälle veröffentlichen.

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