Horrorfilm „Ich seh, ich seh“: Das Genre ist kein Witz

Veronika Franz und Severin Fiala zeigen mit „Ich seh, ich seh“, was ein Genrefilm, der sich ernstnimmt, alles möglich macht.

Darsteller im Film

Sie bezweifeln, dass die Frau in ihrem Zuhause wirklich ihre Mutter ist: Lukas und Elias Schwarz als Zwillingsbrüder in „Ich seh, ich seh“. Foto: Neue Visionen

Das Genrekino ist so etwas wie die ewig verpasste große Liebe der Filmgeschichte: Was aktuell davon im Kino läuft, wird immer unterschätzt, verkannt, missverstanden, als „nieder“ oder zu massentauglich abgetan. Erst im Nachhinein, in der nostalgischen Retrospektive, weiß man das ein oder andere Werk besser zu schätzen, erklärt es zum Kult und erkennt die Meisterschaft darin.

Es mag mit diesem Fluch der verspäteten Würdigung zusammenhängen, dass sich die wenigsten Regisseure, zumal in Europa, trauen, das Genre ernst zu nehmen. Eine Genreparodie scheint da viel verführerischer, weil sich kokettieren lässt mit der Doppeldeutigkeit von Geringschätzung und Hommage.

Das gilt insbesondere für den Horrorfilm, wo das Etikett „Parodie“ zu einer Art kugelsicheren Weste geworden ist, die gegen Angriffe verschiedenster Art schützt, seien das Klagen wegen schlechter Spezialeffekte, einer hanebüchenen Handlung oder einer unpassenden Altersfreigabe.

Idyllische Ferien auf dem Land

„Ich seh Ich seh“, nach dem Dokumentarfilm „Kern“ (2012) die zweite Zusammenarbeit des österreichischen Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala, aber ist ein Horror- und Genrefilm, der sich ernst nimmt. Das wird bereits mit den ersten Bildern klar, die gleichsam idyllische Ferien auf dem Land zeigen: Zwei Jungs (Elias und Lukas Schwarz), die sich wie Zwillinge gleichen, rennen durch Felder, hüpfen über Sumpfwege, spielen im Wald.

Man sieht den Jungs an, welche Anziehungskraft die manchmal bedrohlichen Situationen in der Natur ausüben.

Sie sind so um die zehn, ein paradiesisches Alter für Abenteuer dieser Art. Aber auch ein Alter, in dem das Kindern so eigene magische Denken sich auf fast gefährliche Weise mit dem Erwachen eines scharfen Verstands mischt. Einerseits gleicht alles um sie herum einer Märchenwelt, in der aus Felsen Riesen werden und im Wald Geister hausen. Andererseits verfügen sie über die ganz reale Macht, etwa ein paar Ungeziefer zu quälen.

Man sieht den Jungs an, welche Anziehungskraft deshalb gerade die seltsamen und manchmal bedrohlichen Situationen in der Natur ausüben: das Dunkel einer Höhle, die stille Tiefe eines Sees im Wald wollen erforscht und erobert werden. Irgendwann, wir sind immer noch erst am Anfang des Films, treibt nur noch einer der Jungs auf dem Wasser, den Namen des anderen rufend. Der erfahrene Zuschauer weiß, dass irgendetwas passiert sein muss. Aber dann belegen die nächsten Bilder das Gegenteil. So scheint es zumindest.

Vollbandagen einer Schönheitsoperation

"Ich seh, ich seh". Regie: Veronika Franz und Severin Fiala. Mit Susanne Wuest, Elias Schwarz u.a. Österreich 2014, 99 Min.

Zu Hause, in einer wie im Verlorenen stehenden Villa, deren moderne Architektur einen tatsächlich schon unheimlichen Kontrast zur ländlichen Umgebung bildet, werden die Jungs von einer Mutter (gespielt von Susanne Wuest) empfangen, deren Gesicht unkenntlich hinter den Vollbandagen einer Schönheitsoperation verborgen bleibt. Zumindest ist Letzteres eine Erklärung, die sich anbietet. Was der Grund der Bandage ist und welche Identität die Frau dahinter tatsächlich hat, das wird im Lauf des Films immer rätselhafter.

Die Jungs zumindest, befeuert auch vom Trotz darüber, dass die „Mutter“ sich immer nur an einen von ihnen wendet und den anderen ignoriert, geraten immer mehr in Zweifel darüber, ob die Frau in ihrem Zuhause tatsächlich ihre Mutter ist. Und mit der ihnen eigenen Mischung aus Unschuld, Unwissen und Gewaltbegabung machen sie sich daran, die Wahrheit herauszufinden.

Mit schrecklichen Konsequenzen: für die Frau, für die Villa und natürlich auch für die beiden Jungen. Das Genre Horror ernst nehmen, das bedeutet an dieser Stelle auch, dass „Ich seh Ich seh“ keinesfalls ein Film für schwache Gemüter ist.

Ein totes Kind

Mit ihrem selbst verfassten Drehbuch, das so gut wie keine Dialoge enthält, gelingt es Franz und Fiala lange, den Zuschauer völlig darüber in der Schwebe zu halten, welche Geschichte sich eigentlich vor seinen Augen abspielt. Geht es um ein totes Kind, einen imaginären Freund oder doch um eine verschwundene Mutter? Was geht in den Köpfen der drei Hauptpersonen vor und vor allem: Welche Version davon ist die, die man als „real“ deuten kann?

Was als das Drama der zwei Jungen beginnt, die auf einmal Zweifel darüber bekommen, ob die Frau, die behauptet, ihre Mutter zu sein, tatsächlich ihre „Mamma“ ist, wird schließlich zugespitzt zum Drama ebendieser Frau, die mit ihrer mütterlichen Macht die mütterliche Identität zu verlieren droht.

Zum Erfolgsrezept des Films gehört die Sparsamkeit seiner Ingredienzen. Außer den Jungs und der geheimnisvollen bandagierten Frau tauchen nur noch wenige Nebendarsteller in kurzen, dabei ein wenig „comic relief“ verschaffenden Momenten auf. Die mannigfaltigen Zitate klassischer Horrorszenen – von der Frau mit Gesichtsbandage bis zum aufgeschlitzter Körper, aus dem Ungeziefer quillt – sind sorgfältig gesetzt, ohne dass man sie zwangsläufig alle erkennen müsste.

Ohne Augenzwinkern an die Eingeweihten

Auch hierin beweist sich der Ernst des Films: „Ich seh Ich seh“ kommt gewissermaßen ohne Augenzwinkern an die Eingeweihten unter den Zuschauer aus. Die volle Konzentration gilt den drei Hauptfiguren und im Wesentlichen einem Schauplatz, einer modernen Villa. Deren kahle Wände und glatte Oberflächen mit ihrer eindeutigen Materialität – Holz, Stein, Teppich – trägt viel zum Horror bei: Gerade die Geheimnislosigkeit dieser Bauweise, die radikal vom ornamentalen Altbau Abschied nimmt, schafft in ihrer Leere Projektionsräume für Ängste und Beklemmungen aller Art.

Einmal mehr trägt auch die Meisterschaft des österreichischen Kameramanns Martin Gschlacht das Ihre dazu bei: Seine mal ruhigen und mal beunruhigenden, mal meditativen und mal augenöffnenden Aufnahmen schaffen den atmosphärischen Hintergrund, vor dem sich dieser Horrorfilm mit tiefenpsychologischen Elementen entfaltet.

Denn gerade der Verzicht auf Ablenkung durch parodistische Elemente ermöglicht die Öffnung der Geschichte auf eine bestürzende Vielfalt von Deutungen hin. Selten etwa hat man so sinnlich-eindrücklich demonstriert bekommen, dass das Muttersein eine Handlung ist, die sich nur ausführen, nicht beweisen lässt. Das Diktum von den Filmen, die erst im Kopf des Zuschauers entstehen, trifft hier in vollem Maße zu: Im raffinierten Spiel von Zeigen und Verbergen, von drastischen Bildern und unsichtbarem Schrecken wird das, was sich im Unsichtbaren dieses Films abspielt, zu dem, was in den Bann zieht.

„Mitgefangen, mitgehangen“

So gesehen erweist sich der Titel als eine Art Falle: „Ich seh Ich seh“ bezieht sich auf das alte Kinderspiel, indem der brave Zuschauer quasi wie von selbst das, „…was du nicht siehst“, ergänzt und damit schon das „mitgefangen, mitgehangen“ erlebt mit dem, was da auf der Leinwand geschieht.

Die Tatsache, dass Veronika Franz mit Ulrich Seidl verheiratet ist und dessen Filme mitproduziert, mag dazu verführen, „Ich seh Ich seh“ in den Kontext der Seidl-Filme und deren gekonnter Bloßlegung des spezifisch österreichischen Alltagshorrors zu stellen. Aber damit macht man diesen Film kleiner, als er ist. Auch wenn dies wie ein Widerspruch in sich klingt: „Ich seh Ich seh“ funktioniert als Genrefilm so gut, weil er sich traut, ganz eigen, ganz individuell zu sein – und sich dabei doch ans Regelwerk hält.

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