Streit um Hamburger Gefahrengebiete: Polizei vielleicht verfassungswidrig

Seit ein Gericht Gefahrengebiete als verfassungswidrig einstufte, arbeiten Hamburger Behörden an neuem Gesetz. Solange kontrolliert die Polizei fleißig weiter.

Schon lange bevor ein Gericht sie als verfassungswidrig einstufte, waren Gefahrengebiete unbeliebt. Anwohner-Protest im Januar 2014 Foto: Axel Heimken (dpa)

HAMBURG taz | Gefahrengebiete sind verfassungswidrig – jedenfalls laut Einschätzung des Hamburger Oberverwaltungsgerichts (OVG) im Mai 2015. Aber die Polizei lässt sich davon nicht beirren. Ende vergangener Woche kontrollierten PolizistInnen die Personalien einer Gruppe Menschen an der Balduintreppe auf St. Pauli. Als Grund der Kontrolle gaben die PolizistInnen das Gefahrengebiet an. Das bestätigte auch ein Sprecher der Polizei.

Eine der kontrollierten Personen berichtet: Auf den Hinweis, Gefahrengebiete seien aber verfassungswidrig, hätten die PolizistInnnen erwidert, das Urteil sei ihnen zwar bekannt, sie fühlten sich aber nicht daran gebunden – ihr Auftraggeber sei schließlich nicht das Gericht, sondern die Polizeiführung.

Der Polizeipressesprecher Jörg Schröder sagte dazu: „Die Polizei agiert nach der derzeit gültigen Rechtslage.“ Und die sei nun mal, solange die geplante Änderung noch nicht in Kraft sei, wie gehabt – das Gefahrengebiet.

Im April hatte sich die rot-grüne Koalition auf eine Gesetzesänderung geeinigt, die Gefahrengebiete abschafft und in „gefährliche Orte“ ändert. Kontrollen sollen nach dem neuen Gesetz nicht mehr flächendeckend möglich sein, dafür reichen die Befugnisse der BeamtInnen weiter. Die Neuregelung sei „schärfer, aber zielgerichteter“, argumentierten Justizsenator Till Steffen (Grüne) und Innensenator Andy Grote (SPD). Nach der Sommerpause soll das neue Gesetz im Innenausschuss und der Bürgerschaft verabschiedet werden.

Die Neuregelung des Gesetzes über Gefahrengebiete, die zukünftig „gefährliche Orte“ heißen, sieht vor:

Zukünftig können nicht mehr ganze Viertel unter Generalverdacht gestellt werden. Es muss belegbar sein, dass genau an dem fraglichen Ort Kriminalität stattgefunden hat – und nicht drei Straßen weiter. Kriminalität heißt hier: Straftaten von erheblicher Bedeutung.

Dann dürfen nicht nur Identitäten festgestellt, sondern auch Taschen durchsucht werden – aber nur, wenn auf die Person bezogene tatsächliche Anhaltspunkte dies erforderlich machen.

Aber wie kann bis dahin noch ein Gesetz noch in Kraft sein, das nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist? Ganz so einfach sei das nicht, sagt der Hamburger Verfassungsrechtler Ulrich Karpen. „Über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kann nur ein Verfassungsgericht entscheiden.“ Das Oberverwaltungsgericht habe in einem konkreten Fall geurteilt.

Im Mai 2015 hatte eine Passantin geklagt, weil sie im Gefahrengebiet kontrolliert worden war. Sie bekam Recht und das OVG begründete auf 36 Seiten, warum es Gefahrengebiete generell für verfassungswidrig hält. „Hinfällig wird das Gesetz über die Gefahrengebiete dadurch aber nicht“, stellt Karpen klar. Allerdings halte er es aus Sicht der Polizeiführung nicht für klug, ein Gesetz weiter zu praktizieren, wenn es ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass es gegen die Verfassung verstößt. Polizei und Innenbehörde finden das unproblematisch. Frank Resch­reiter von der Innenbehörde sagt: „Solange der Gesetzestext nicht geändert wird, gilt das alte Gesetz unter Berücksichtigung des OVG-Urteils.“

Nur: Wie sollen die BeamtInnen das umsetzen? Kontrollen aufgrund des Gefahrengebiets durchzuführen, unter Berücksichtigung des Urteils, das Gefahrengebiete als verfassungswidrig einstuft? In der Urteilsbegründung des Gerichts steht: „Schon die Ausweisung eines Gefahrengebiets kann sich auf die unbehelligte Grundrechtsausübung auswirken“.

Die Anwältin Alexandra Wichmann, die mehrere AnwohnerInnen des Gefahrengebiets St. Pauli in Rechtsfragen berät, ist der Meinung: „Wenn man das OVG-Urteil ernst nimmt, kann es keine Gefahrengebiete geben. Alle Maßnahmen, die unter Berufung auf das Gefahrengebiets erfolgen, verstoßen gegen Grundrechte“. Die Polizei setze sich wissentlich über das Urteil hinweg. Polizeisprecher Schröder weist diesen Vorwurf zurück. Wie die BeamtInnen bei den Kontrollen das OVG-Urteil berücksichtigen, erklärt er so: „Die Inaugenscheinnahme von Rucksäcken ist seit dem Urteil nicht mehr erlaubt.“

Was allerdings nicht heißt, dass sie nicht vorkommt. Vergangene Woche berichtete eine Anwohnerin der Hafenstraße: Kurz nachdem sie ihr Haus verlassen habe, sei sie von PolizistInnen angehalten und ihre Personalien seien überprüft worden. Dabei habe eine Beamtin sie am ganzen Körper abgetastet und ihre Tasche durchsucht. Auf die Frage nach dem Grund für die Durchsuchung hätten die BeamtInnen ihr die Auskunft verweigert. Die Anwohnerin will Rechtsmittel einlegen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.