Musikdoku im Kino: Geist in der Maschine

Fünf DJs und eine ideale Tonspur: Davon handelt Romuald Karmakars filmische Dokumentation „Denk ich an Deutschland in der Nacht“.

Ein Mann neben einem Apfelbaum

Der Apfel fällt nicht weit vom Klang: David Moufang alias Move D räsonniert über das kosmische Ganze der Musik Foto: REM

„Der Teppich ist riesig und man sieht das Ende nicht“, sagt der Frankfurter DJ Ata Macias über stilistische Vielfalt, verwandtschaftliche Verästelungen und internationale Bedeutung der hiesigen Houseszene. Ata sitzt auf einem Sofa, tagsüber in einem leeren Club. Er lässt sich beim Erzählen vom bildhaften Sinn für Details treiben und verbreitet dabei mönchische Bierruhe. Dies ist die dritte von insgesamt 25 langen Kameraeinstellungen, aus denen Romuald Karmakars fast zweistündiger, aber nie langatmiger Dokumentarfilm „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ montiert ist.

Zuvor haben wir dem Produzenten Ricardo Villalobos in seinem Berliner Studio minutenlang beim Abspielen einer Spoken-Word-Platte und seiner Kommentierung zugesehen und die Genfer Produzentin Sonja Moonear beim konzentrierten Herumdrücken auf Effektpads betrachtet.

Der Fluss der Bilder ist bereits in Gang, da malt Ata das Big Picture, erklärt anschaulich, wie House einst aus den USA nach Deutschland gewandert ist, dass sich seine Geschichte durch das bessere Know-how der lokalen Produzenten entscheidend gewandelt hat, und doch bis heute in kreishafter Bewegung verläuft.

The Changing Same. Ata, der in den frühen Neunzigern das Frankfurter House-Label Playhouse begründete und heute noch den Club Robert Johnson in Offenbach betreibt, weiß, wovon er redet. Er ist wie die anderen Protagonisten in „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ seit mindestens einem Vierteljahrhundert aktiv.

Das Ohr des Toningenieurs

Wenn es so etwas wie das Ideal einer sensiblen und ausbalancierten Tonspur gibt, die von „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ kommt dem ganz nahe. Musik in einer Dokumentation darzustellen ist ja kompliziert, weil sich musikalischer Rhythmus mit dem Schnitt von Bildern nicht ohne Weiteres verträgt. Aber Karmakar löst dieses Problem mit dem Ohr eines Toningenieurs. Er unterlegt die Bilder mit einem akustischen Spektrum aus unterschiedlichen Perspektiven: aus der Position der fünf DJs und Produzenten, direkt vom Mischpult, so wie sie ihre Tracks via Monitor und im Kopfhörer wahrnehmen – als reiner Sound.

Mal mit Atmosphäre, mitten von der Tanzfläche aus aufgenommen und mit den akustischen Reaktionen der Tanzenden versehen – als schmutziger Sound, mal aus der Ferne, außen vor dem Club – mit Grillenzirpen als mumpfiger Sound. Und dazwischen hören wir die Aussagen.

Die Protagonisten erkennen in der Kunstform House etwas Größeres als nur das eigene Ego

Und das ist das zweite Alleinstellungsmerkmal dieser famosen Dokumentation: Auch wenn Karmakar zu seinen Protagonisten auf Distanz geht, er bleibt ihnen auf der Spur. Er hält sich an den kleinsten gemeinsamen Nenner auf dem Dancefloor, wie ihn Ricardo Villalobos in Einstellung 20 erläutert: Alle Werte der zufällig anwesenden Gemeinschaft werden auf eines reduziert: den Beat der Musik.

Trotzdem ist die Tonspur nicht eindimensional damit zugemüllt, sie spielt mit dem Mut zur Lücke. Um den völkerverständigenden House-Sound zu erzeugen, braucht es ja Mischpulte, Plattenspieler, CD-Geräte, Boxentürme, Synthesizer und Effekttracks. Die Apparate blinken, beben und brummen fortwährend in „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, fast nebenbei gelingt Karmakar auch die radikale Verortung von Technologie in gesellschaftlichen Zusammenhängen: Indem er House als „gesellschaftliche und kollektive Maschine“ (Deleuze/Guattari) zeigt, hebt er dessen Bedeutung als Ereignis hervor und bleibt nie in der technologischen Abstraktion hängen.

Ort der großen Geräuschkulissen

„Denk ich an Deutschland in der Nacht“, diesen Aphorismus von Heinrich Heine ergänzt DJ Roman Flügel am Ende um die Beobachtung, dass das liberale, durch House begünstigte Nachtleben aus seiner Sicht das Beste sei, was dem provinziellen Deutschland seit der Wiedervereinigung passieren konnte. Um mal das Partypolitische zu klären. Der Film porträtiert bloß fünf Protagonisten, aber sie gehören zum Inner­circle der Szene, sie alle haben Starrummel und Krisenzeiten hinter sich, sind reflektiert – und optimistisch geblieben.

Durch die Beschränkung auf 25 Einstellungen wirkt Karmakars Film mitunter selbst wie ein nächtliches DJ-Set, das aus dem Build-up einiger Tracks und ihrer Summe im Mix etwas Neues ergibt. Und in diesem Mix stecken Höhepunkte; Hooklines wie die Einführung von David Moufang alias Move D in Einstellung 13: Die Kamera folgt ihm, als er einen Pfad in einem Waldstück entlanggeht, oberhalb seiner Heimatstadt Heidelberg an einem Apfelbaum stehenbleibt und ins Fabulieren kommt.

Hier sei ein Ort der großen Geräuschkulissen: Insekten, Wind, Verkehr aus dem Neckar­tal dienen ihm als Inspiration fürs Musikmachen, „damit können die Ohren spazieren“. Genaues Hinhören, das die Natur von ihm erzwingt, stünde in ­Diskrepanz zur Lautstärke im Club. Dann holt Moufang weiter aus, wandert von Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, den er als Kind des Space Age begeistert gesehen hat, zum Max­-Planck-Institut, an dem sein Vater einst als Astrophysiker gearbeitet hat.

Er stellt die Saturnfaszination des US-Jazzpianisten Sun Ra in Beziehung zur Heidelberger Sternwarte und wirft alles in den Kosmos: „Musik ist eine körperlose Art zu reisen.“ In der nächsten Einstellung ist Move D dann DJ bei einem Outdoor-Rave in Wales. Ein Piano-Intro spielt im Loop, die Kamera zoomt allmählich vom Parkplatz zu den Zelten, schließlich landen wir hinter dem Mischpult, Mou­fang blättert den Housetrack in seiner seelenvollen Gänze auf. Die Meute auf der Tanzfläche reagiert ohne Umschweife.

Die ekstatischen Augenblicke bekommen abgründige Gegenparts: Roman Flügel erzählt vor einem leeren Tresen von der Beklemmung, als er am Abend des Charlie-Hebdo-Attentats im Pariser Rexclub aufgelegen musste, wie sich die anfangs flaue Stimmung dann doch noch zur ekstatischen Jetzt-erst-recht-Party gewandelt hat. Von der Angst und der Einsamkeit des DJs, wenn etwas nicht nach Gusto verläuft, berichtet er auch: „Ich bin kein Zeremonienmeister“.

Ein Club ist verletzlich

Ausgehen sei Ausbruch aus dem Alltagsleben und etwas, bei dem Gefühle erlaubt sind, die sonst daraus verbannt seien. Ein Club sei darum verletzlich. Und Sonia Mounir argumentiert gegen das Vergnügungsverbot ihrer calvinistisch geprägten Herkunft und stellt die göttlichen Momente der Gemeinschaft auf dem Dancefloor direkt neben das Scheitern, wenn es ihr eben nicht gelingt, die Menschen via Musik zur gemeinsamen Euphorie zu transportieren. Dies sei kein Weltuntergang.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht“. Regie: Romuald Karmakar. Deutschland 2017, 105 Min.

Romuald Karmakar lässt die Protagonisten ausreden, führt sie aber nie vor. Er selbst bleibt unsichtbar, zwei-, dreimal hört man ihn nachfragen. „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ ist nach „196 BpM“ (2003) und „Villalobos“ (2009) seine dritte filmische Auseinandersetzung mit dem Milieu der elektronischen Tanzmusik, es ist seine bis dato beste, was auch daran liegt, dass die Protagonisten in der Kunstform House etwas Größeres erkennen als nur das eigene Ego, mal weniger, mal mehr. Der Filmemacher gehört übrigens zum Team von Chris Dercons neuer Volksbühne.

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